Vielleicht einfach erst mal so herum: Nicht nur im Pop, aber da natürlich ganz besonders, lässt man sich ja mit allergrößtem Vergnügen schön für dumm verkaufen. Immer wieder. Und dann gleich noch mal. Weil: Man weiß schließlich (oder ahnt es, aber das ist im Grunde dasselbe), dass das Schöne der Abglanz der Wahrheit ist. Also der Abglanz der einen großen, allerletzten Wahrheit, die von ein paar Legionen fleißiger Geschäftsleute mit Glitzerkram und Showtreppe, mit Sexmäusen und Rocktrotteln, mit Basswumms und Synthie-Seen Tag für Tag aus den Nebelschwaden des kollektiven Unterbewusstseins ins Licht der großen Monster-Playback-Show gehievt wird, die wir Gegenwart nennen. Worin die Wahrheit genau besteht, will am Ende aber natürlich doch niemand wissen. Man kann aber trotzdem nicht wegsehen. Wie bei einer Unfallstelle, an der man vorbeifährt.
Andererseits gibt es die 35-jährige amerikanische Songwriterin, Sängerin und Gitarristin Annie Clark alias St. Vincent, deren neues, sechstes Studioalbum "Masseduction" (Caroline International) nun erschienen ist. Für Popkünstler wie St. Vincent zählt vor allem erst mal der schöne Schein des Falschen, des Gespielten, des Aufgeführten, weshalb sie zuverlässig die einzigen sind, von denen ein paar nützliche Hinweise über obige Wahrheit zu bekommen sind, wenn man nur genau genug aufpasst, aber dazu später.
Bei einer Werbeveranstaltung zum Album in London wurde jeder, der mit ihr sprechen wollte, in eine rosa Holzbox geführt, in der sie den Kollegen vergnügt erklärte, dass das Gespräch in diesem Kasten selbstverständlich schon eine Performance sei, die Authentizität ihrer Musik dadurch aber nicht beschädigt werde. Hehe. An anderer Stelle bemerkte sie, dass sie sich für jedes ihrer Alben bislang einen Archetypen ausgedacht habe. Die 2011 erschienene Platte "Strange Mercy" sei "Desperate Housewife auf Pillen", der Archetyp des unbetitelten vorletzten Albums, für das sie mit einem Grammy ausgezeichnet wurde, ein "Near Future Cult Leader", ein künftiger Sektenführer, und "Masseduction" sei eine "Domina in der Nervenheilanstalt, sexy, aber gerissen".
"Verführung ist, wenn die Party-Einladung besser ist als die Party"
In allerfeinsten Schwindel geriet man dann, als man auf ihrem Instagram-Account in den vergangenen Wochen die kleinen Clips sah, in denen sie - vor knallgrünem Hintergrund aufrecht sitzend auf einem grünen Plastikstuhl - genauso aussah: wie eine gerissene Domina in einer Nervenheilanstalt. Zu strengem schwarzen Bob und pinkem Lippenstift trägt sie darin einen ebenso pinken Bleistiftrock, einen breiten schwarzen Gürtel und eine durchsichtige Latexbluse - und gibt auf die exemplarisch behämmertsten Fragen, denen Popstars so ausgesetzt sind, die exemplarisch cleversten Antworten. Freundlich, aber ehrfurchgebietend geistesgegenwärtig: Ob sie sich denn selbst googele? "Das ist die einzige Form von Masturbation, die ich nicht schätze." Was für sie Verführung sei? "Verführung ist, wenn die Party-Einladung besser ist als die Party." Was sie über Selfies denke? "Ich denke, dass es Selfies sehr viel leichter gemacht haben, narzisstische Persönlichkeitsstörungen zu diagnostizieren." Und ist denn das Glas halb voll oder halb leer? "Das Glas ist halb voll - mit Leere."
Die Verführung der Massen ist trotzdem selbstverständlich das Letzte, worum es auf "Masseduction" geht. Und das liegt schon an der Musik. St. Vincent ist zuletzt durch Werbung für die Schmuckmarke Tiffany sowie Beziehungen zum Supermodel Cara Delevingne oder dem Hollywoodstar Kristen Stewart zu einer gewissen Mainstream-Berühmtheit gekommen, als Künstlerin macht sie unbeirrt eigenwilligen Indie-Elektro-Pop in der Tradition der Talking Heads. Die übliche Strategie von Kolleginnen wie Lady Gaga oder Miley Cyrus, die zu ihren oft irrsinnig smarten und erstaunlich mutigen Inszenierungen meist den denkbar gewöhnlichsten Kirmes-Techno spielen, gibt es bei ihr nicht. Dafür ist sie als Musik-Künstlerin zu versiert und zu ambitioniert.