Natascha Wodin: "Nastjas Tränen":Im Schleudergang der Zeitgeschichte

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Eine Frau sucht eine Putzhilfe und findet eine Ukrainerin, wie ihre eigene Mutter. Natascha Wodins Roman "Nastjas Tränen".

Von Helmut Böttiger

Die "slawische Mentalität" hat etwas Gespenstisches, und Zeit ihres Lebens sah sich Natascha Wodin mit ihr konfrontiert. Als Kind sowjetischer Zwangsarbeiter in Hitlerdeutschland geboren, standen ihre Herkunft und die damit verbundenen inneren Konflikte immer im Zentrum ihrer Texte. In Wodins bewegendem Buch "Sie kam aus Mariupol" diagnostizierte die Autorin den unergründlichen, abweisenden Ausdruck in den Augen ihrer Mutter, die sich in den Fünfzigerjahren umbrachte, als "Heimweh": als das Gebundensein an eine Welt, vor der sie zwar fliehen wollte, die sie aber in Deutschland fremd bleiben ließ. Denselben Ausdruck erkennt die Ich-Erzählerin nun fünfzig Jahre später in den Augen der Ukrainerin Nastja.

Es spielt keine Rolle, ab welchem Zeitpunkt die Autorin den Bereich engerer biografischer Erfahrungen verlässt und in Fiktionalisierungen übergeht. "Nastjas Tränen" liest sich wie eine dokumentarische Geschichte, aber in ihr steckt eine aufregende Psycho- und Milieustudie. Die Erzählerin möchte eine Putzfrau einstellen, doch als sie Nastja sieht, ist ihr klar: Dies ist die erste Ukrainerin nach ihrer Mutter, die ihr nach Jahrzehnten begegnet. Plötzlich ist sie mit etwas konfrontiert, das sie eigentlich für immer hinter sich lassen wollte: das Schwanken zwischen Ost und West, die als unheilvoll empfundene Nähe zu slawischen Weltsichten, die dem westlichen Leben verführerisch und verderblich in die Quere kommen können.

In der Ukraine eine Ingenieurin, in Berlin eine Illegale

Nastja ist eine jugendlich wirkende, intelligente Person, und sie löst widersprüchliche Gefühle aus. Die Ich-Erzählerin tritt mit ihrer Stimme zurück und beschreibt in atmosphärischen Skizzen die sowjetische Vergangenheit ihrer Putzfrau. Da studiert Nastja Bauingenieurwesen in Kiew und verliebt sich in den Medizinstudenten Roman. Eine Zeit lang leben die beiden in einem ausrangierten Güterwagen auf dem Klinikgelände, und die verschiedensten Eindrücke überlagern sich: die Probleme, etwas zu essen zu ergattern, die zermürbende Wohnsituation, aber auch die Motorradfahrten auf die Krim zu den Eltern Romans, die für Nastja zum Sinnbild ihrer Sehnsüchte werden.

Als die Ukraine ein selbständiger Staat wird, zerbrechen alle Strukturen. Im neuen Wild-Ost-Kapitalismus führen einige Nutznießer des Systems die staatlichen Betriebe und Immobilien skrupellos in ihren Privatbesitz über. Nastja, die leitende Tiefbauingenieurin, bekommt von der Staatskasse monatelang ihr Gehalt nicht mehr ausgezahlt. Als letzten Lohn erhält sie, nach 25 Jahren Dienst, einen Sack Reis. Es herrscht Rechtlosigkeit, das Überleben wird zu einem tagtäglichen Kampf. Da erscheint der "Westen" auch für Nastja als eine verzweifelte Chance.

Es ist eine zeitgenössische, osteuropäische Odyssee, die nun beginnt, und selten hat man so nah verfolgen können, wie eine gut ausgebildete und pflichtbewusste Frau wie Nastja in den Schleudergang der Zeitgeschichte gerät. Sie ist auf die kriminellen ukrainischen Netzwerke angewiesen und landet als Putzfrau bei der Oligarchengattin Marina Iwanowna, die in einem neureich aufgemotzten Altbau in der Nähe des Kurfürstendamms wohnt und sie schamlos ausbeutet. Doch Nastja gelingt es, auch bei deutschen Familien zu putzen, und bald kommt sie mit der Erzählerin in Berührung.

Obwohl ihr die deutschen Familien wie Inseln der Humanität erscheinen, lernt sie kein Deutsch

Als der Passfälscherring auffliegt, der Nadja eine gefälschte ukrainisch-jüdische Identität besorgt hatte, und sie Deutschland verlassen muss, spürt die Verfasserin "die letzte Chance, meiner Verwicklung in ihre Geschichte zu entgehen". Sie möchte nichts mit jener "stillen slawischen Volksdemut" zu tun haben, die Nastja von ihren Ahnen und Urahnen in die Wiege gelegt worden sei, als Teil der Geschichte eines "seit jeher geknechteten Landes". Aber sie kümmert sich um Nastja, und es gelingt ihr, deren Abschiebung zu verhindern und eine sogenannte "Fiktionsbescheinigung" zu ergattern, die ihr eine Zeit lang das Aufenthaltsrecht ermöglicht.

Das bürokratisch schillernde Wort "Fiktionsbescheinigung" wird von der Erzählerin nach allen Seiten hin befragt und in ihre eigene ästhetische Arbeit überführt. Es gibt wunderbare Passagen, in denen die westliche Welt mit Nastjas Augen wahrgenommen wird, Bevölkerung und Freizeitpraktiken des Prenzlauer Bergs erscheinen wie eine Zirkusvorstellung, mit zauberhaften Arrangements und irren Kostümen. Und obwohl ihr die deutschen Familien, bei denen sie putzt, wie Inseln der Humanität erscheinen, und obwohl sie verdutzt registriert, dass die Leute unbeschwert in den Cafés sitzen und offenkundig nicht einem ständigen Kampf ausgesetzt sind wie in ihrer Heimat - etwas in Nastja weigert sich, Deutsch zu lernen, als würde sie "Verrat begehen" an einer Welt, "die für immer die ihre bleiben würde".

Eine bizarre Konstellation entsteht, als Nastja eine Heiratsannonce aufgibt, um in Berlin keine Illegale mehr sein zu müssen. Sie verliebt sich gleich in den Kranführer Achim, weil er sie mit seiner Harley-Davidson ausführt - eine tiefe Erinnerung an das Glück wird wach, an die Ausflüge auf die Krim mit ihrem früheren Mann. Das Bildungsgefälle zwischen der Bauingenieurin, die ihre Bücher in der Staatsbibliothek leiht, und dem deutschen Rocker mit seinen Pornoheften erweist sich als beträchtlich, und außerdem entpuppt sich Achim als Heiratsschwindler. Bald lebt er von dem Geld, das sie verdient.

Natascha Wodin: Nastjas Tränen. Roman. Rowohlt-Verlag, Hamburg 2021. 192 Seiten, 22 Euro. (Foto: N/A)

Als Achim schließlich stirbt, verknäuelt sich der Knoten noch. Nastja, deren Unerschütterlichkeit die Erzählerin in den Bann zieht, wohnt nun mit in deren Wohnung. Die Ukrainerin ist "glücklich, wenn sie gebraucht" wird, und macht viel für ihre Freundin. Doch als es einmal ein festlich gemeintes deutsches Essen gibt, kommt es fast zum Eklat. Nastja schmeckt es nicht, und der eiserne Vorhang, der beiseitegeschoben schien, ist für die Erzählerin plötzlich wieder da. Die Illusion der Gemeinsamkeit zerbricht. Die Erzählerin muss erkennen, dass sie für Nastja viel mehr Deutsche ist als Ukrainerin. Und Nastja hält unbeirrbar an ihren Gewohnheiten fest. Ihr reicht auch hier nur ein "Eckchen" in der Wohnung, sie streift durch die Stadt, ruhelos wie eine "Straßenkatze", und sie ist viel lieber unter Leuten als allein. Als sie im Zug nach Kiew einmal ein Einzelabteil zugewiesen bekommt, sehnt sie sich danach, wie die Passagiere in den anderen Abteilen "in einer Ritze zwischen zwei Transportkisten" zu schlafen "süß eingebettet in die Schicksalsgemeinschaft der Reisenden".

Mit solch ungebundenen Bildern schließt der Roman, in dem "meine Mutter Regie geführt hatte". "Nastjas Tränen" ist eine Auseinandersetzung mit der Herkunft, die kein Ende finden kann und die in ihrer ganzen Sehnsucht und ihrem ganzen Schmerz überraschende Formen annimmt. Aber was daraus entsteht, ist ein einfühlsames, vielschichtiges Charakter- und Gesellschaftsporträt, dessen politische Bedeutung nie näher kommentiert wird, aber in jeder Zeile vibriert.

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