Nachruf:Eine völlig neue Sicht auf das Kino

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Jacques Rivette, geboren 1. März 1928 in Rouen. 1949 kam er nach Paris, wurde Dauerbesucher der Cinémathèque und Mitarbeiter der Cahiers du Cinéma. (Foto: Michael Euler/AP)

Jacques Rivette, der klarste und radikalste Filmemacher der französischen Nouvelle Vague, ist gestorben.

Von Fritz Göttler

Er konnte nicht leben ohne das Kino, er hat es geliebt und wollte Filme sehen und machen, wann immer es ging. Am Tag, als Jean Renoirs "Le carrosse d'or" - Renoir, sein Meister, sein Patron - ins Kino kam, hat er den Film fünfmal hintereinander angeschaut. Bis ins hohe Alter hinein ging er in die aktuellen Filme und hat sie mit unbestechlichem Blick gerühmt oder verworfen, hat über Spielberg und Cameron gelästert und films maudits wie Paul Verhoevens "Showgirls" gerettet.

Ich hatte den Ruf, der St. Just der Zeit damals zu sein, hat er von seinen Jahren in der Redaktion der Cahiers du Cinéma erzählt. Er war - vor Godard und Truffaut, Rohmer und Chabrol - der klarste und radikalste in der Cahiers-Fünferbande, die in den Fünfzigern eine völlig neue Sicht aufs Kino, zumal aufs amerikanische einbrachten mit ihren Texten und später, als sie selbst Filme machten, die Nouvelle Vague begründeten.

Die Zeit flieht, die Liebe bleibt

1956 schon hatte Rivette einen kleinen Film gedreht, "Le coup de berger". 1958 begann er dann seinen ersten langen Film, "Paris nous appartient", eine verwickelte Liebesgeschichte um eine Theatertruppe, und die Mysterien von Paris, die sich um sie entwickeln. Diese kamen direkt aus dem alten Serialkino des Louis Feuillade, von Fantômas und Judex, und aus den Romanen von Balzac, die Rivettes Kino nachhaltig inspirierten. "Paris nous appartient" brauchte ein paar Jahre bis zur Vollendung, immer wieder musste Rivette neues Geld zusammensuchen, um dann ein paar Szenen weiterdrehen zu können.

Die Zeit flieht, die Liebe bleibt . . . Rivettes Filme bewahren sich ihre Offenheit bis zum Schluss, sie sind wie ein Uhrwerk, dem man beim Laufen zuschaut. Aber die Mechanik kann man nicht erklären, die das Ganze am Laufen hält - die Fiktionen, die Beziehungen, die Gesellschaft. Rivette hat gern die heftigsten, wildesten, archaischsten Stoffe genommen - Diderots "Die Nonne", Brontës "Wuthering Heights", "The Revenger's Tragedy", eine Tragödie des elisabethanischen Theaters -, aber sie von seiner Kamera dann kühl zerlegen lassen. Es gibt nichts Dramatisches in diesen Filmen, keinen Gedanken an Tragödie. Alles ist sichtbar, alles evident. Dass die Götter sich manchmal unter die Menschen mischen, ist ganz natürlich.

Ein Kino zwischen Kontrolle und Freiheit, zwischen Bestimmung und Imagination

Es ist alles eine Frage der Kohärenz, der Logik, sagt Rivette. Die Situationen ergeben sich aus den Figuren, und die Figuren stecken in den Situationen - wie bei einem Maler, man kann ihn auch nicht bitten zu unterscheiden zwischen der Linie und der Farbe. In einem seiner vehementesten Filme hat er das durchgespielt, "Die schöne Querulantin", mit Emmanuelle Béart und Michel Piccoli, nach Balzacs "Das unbekannte Meisterwerk". "Ich höre viel Musik, lese gern die Anmerkungen auf den Plattenalben. Und ich stelle fest, dass alle Komponisten das Gleiche sagen, von Beethoven bis Boulez - dass der jeweils nächste Takt überraschend und logisch zugleich sein muss, dieses Gefühl, es kann gar nicht anders sein." Man kann sich den Bewegungen nicht entziehen in diesen Filmen, wenn die Kamera lange dranbleibt an den Menschen und dabei immer neu den Raum definiert.

Es ist ein Kino zwischen Kontrolle und Freiheit, zwischen Bestimmung und Imagination, zwischen Hitchcock und Renoir, zwischen Tradition und Moderne. Schon in den Sechzigern hat Rivette die Cahiers weit geöffnet, durch Interviews, die er mit Barthes, Boulez und Lévi-Strauss machte. Die Rhythmen sind sehr viel realer und substanzieller in Rivettes Filmen als die Geschichten, von denen bleibt nicht viel mehr als die Aura einer Verschwörung.

Am irrsten in "Out 1" vom Anfang der Siebziger, der auf Balzacs "Geschichte der Dreizehn" basiert und den es in zwei Versionen gibt, und eine davon ist mehr als zwölf Stunden lang. Unermüdlich folgt die Kamera den Menschen auf ihrer Suche nach Partnern, Widersachern und Intriganten, versucht die Gesichter und Körper zum Sprechen zu bringen und das Theatralische der modernen Gesellschaft zu filtern - ein politisches Kino, das auf die Erfahrungen von '68 filmisch reagiert. Verbannt wird von der Bühne die Hysterie, hat Roland Barthes über das japanische Theater geschrieben, die Arbeit tritt an die Stelle der Innerlichkeit. Eine solche Arbeit ist im Kino von Jacques Rivette zu erleben. Am Freitag ist er im Alter von 87 Jahren in Paris gestorben.

© SZ vom 30.01.2016 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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