Musikgeschichte:Studierter Sound

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Toningenieure prägten die Geschichte des Pop. Ein Buch versammelt ihre wichtigsten Produkte: die prägendsten Klänge von 1960-2014.

Von Helmut Mauró

Auch wenn die europäische Musik über viele Jahrhunderte eine höchst gelehrsame Kunst war, ja, bis zur Aufklärung sogar als Wissenschaft verstanden und praktiziert wurde, so ging es doch immer darum, die Besonderheit der sinnlichen Wahrnehmung dieser Wissenschaft herauszustellen. Selbst die Großmeister der anderen sechs artes liberales wie auch die barocken Genies kunstvoller musikalischer Konstruktionen, allen voran Johann Sebastian Bach, behielten die Ästhetik des Klanglichen immer im Ohr. Was in Renaissance, Barock, Klassik und Romantik allerdings meist singuläre Effekte blieben, nämlich die Überwältigung des Hörers durch die schiere Klangpracht oder durch spezielle Effekte - von der Stereo- und Quatrophonie der Renaissance bis zu Richard Wagners Klangorgasmen -, das spielte in der Popmusik von Anfang an eine viel größere Rolle. Spätestens, seit die Beatles konkurrierende Bands durch ihren zur Perfektion getriebenen Studiosound aus dem Feld schlugen, wurden Toningenieure, Aufnahmespezialisten und Sounddesigner immer wichtiger.

Der Berner Musikprofessor Immanuel Brockhaus hat nun sozusagen die historische Konsequenz gezogen und erzählt auf 448 Seiten inklusive Glossar die kurze, aber revolutionäre Geschichte der Popmusik als Geschichte einzelner prägender Sounds. Das liest sich manchmal komplizierter und ausführlicher als nötig, aber dafür findet man einen sehr weit gefassten Überblick über alles, was sich an Popsounds auch nur irgendwie differenzieren lässt. Von Autotune bis Wavetable-Synthese - der Erzeugung von "akustischen Klängen bei elektronischen Instrumenten" mittels variabler Wellenformen - gibt es hier, systematisch aufgedröselt, alle nur denkbaren Klangmöglichkeiten, die in der Popmusik eine Rolle spielen. Grundlage ist der junge Wissenschaftszweig der Sound Studies, der sich seit den 1990er-Jahren mit den technologischen und ästhetischen Entwicklungen im Pop-Bereich beschäftigt.

Dazu gehört auch der Umgang mit der Technologie, die etwa beim Hip-Hop auf purer Intuition beruht. Also dem persönlich eingefärbten Zufall. Dass sich dabei ein Kultklang entwickelte, der nichts anderes ist als der als ORCH5 auf dem Fairlight CMI Sampler gespeicherte Anfangsakkord aus Igor Strawinskys "Feuervogel", zeigt die Unbefangenheit, mit der jüngere Generationen Altes als völlig neu und für ihre Gegenwart passend empfinden. Auf solche Gedanken lässt sich Brockhaus aber nicht ein, er bleibt im Bereich wissenschaftlich exakter Deskription. Generell geht es ihm um technische Details, denen er akribisch nachspürt. Man erfährt, wer mit welchem Instrument unter welchen aufnahmetechnischen Bedingungen und Spezialeffekten welchen Klang produziert hat und in welchen Songs er zum Kultsound einer Region, einer Stilrichtung oder gar einer kleinen Pop-Epoche wurde. Dies liegt dem ehemaligen Keyboarder am Herzen, das spürt man; fast könnte man von Leidenschaft sprechen.

© SZ vom 20.12.2017 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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