"Motherless Brooklyn" im Kino:Im Herz der Korruption

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Wem gehört die Stadt? Lionel Essrog (Edward Norton) will einen Mord aufklären und stößt dabei auf Laura Rose (Gugu Mbatha-Raw). (Foto: Warner)

Edward Norton hat als Regisseur und Hauptdarsteller den Roman "Motherless Brooklyn" von Jonathan Lethem verfilmt - und daraus einen finsteren Krimi über die Ursprünge der Gentrifizierung gemacht.

Von Susan Vahabzadeh

Der Jazz ist die Musik der Underdogs, er vibriert und summt und heult überall dort auf, wo New York seinen Bewohnern noch nicht entrissen wurde. Lionel Essrog (Edward Norton) streunt durch die Straßen wie ein herrenloser Hund, seit er zusehen musste, wie sein Chef und väterlicher Freund Frank Minna (Bruce Willis) in einem Hinterhof erschossen wurde. Franks Witwe will aus der Detektei wieder einen Limousinenservice machen, aber Lionel findet keine Ruhe. Er muss herausfinden, was ihm entgangen ist an diesem kalten Nachmittag; denn ihm entgeht sonst nie etwas. Das ist Teil seiner Krankheit, erklärt er - besessen von Details, aber mit einem unberechenbaren Mundwerk, als würde ein Anarchist in seinem Kopf wohnen.

Edward Norton hat diesen Lionel, "Motherless Brooklyn" gerufen, aus einem Roman von Jonathan Lethem. Sonst ist nicht viel übrig geblieben von der Vorlage, die Norton für seinen Film benutzt hat. Norton, der das Drehbuch selbst geschrieben hat und "Motherless Brooklyn" auch inszeniert, hat die Geschichte verlegt in die Fünfzigerjahre, ihr Gerüst aufgefüllt mit Intrigen, dem Ineinanderfließen von Kriminalität und Politik, das bis in die Gegenwart weist. Dick Pope, der Stammkameramann des Briten Mike Leigh, hat das für Norton gefilmt, ein Fachmann dafür, die Pracht in alten, einfachen Häusern zu entdecken und die Schönheit in versehrten Menschen. Fast zwanzig Jahre hat Norton dafür gebraucht, und letztlich ist dann so eine Art anachronistisches Meisterstück daraus geworden: ein klassischer Film noir, in düsteren Bildern, aufregend und komplex wie ein Jazzstück. Schön, aber derzeit nicht sehr modern.

Lionel Essrog, das sanftmütige, mutterlose Waisenkind, ist ungeheuer gescheit, aber er leidet an Tourette. Er hat einen Tick, oft ruft er "If" oder ganze Sätze, die klingen wie halbfertige Gedichte, manchmal stottert er nur oder er greift, zwanghaft und immer wieder, nach seinem Gegenüber. Seine Katze erschrickt, wenn er sie streicheln will und es plötzlich aus ihm herausbricht. Einerseits machen die Ticks die Schnüffelei schwer, unauffälliges Verhalten gehört nicht zu Lionels Stärken, andererseits wird er oft unterschätzt. Ein Streichholzbriefchen in Franks schwerem Mantel, den er nun trägt, bringt ihn auf eine erste Spur. Eine Jazzkneipe in Harlem, die dem Vater einer jungen schwarzen Frau gehört, Laura Rose (Gugu Mbatha-Raw). Sie arbeitet für einen Verein, der versucht, die Vertreibung armer und mittelständischer New Yorker aus ihren angestammten Stadtvierteln zu verhindern.

Franks Tod hat etwas zu tun mit dem Bauamt und dem mächtigen Stadtrat Moses Randolph

Edward Norton wirkt immer etwas feinnervig, und er hat solche gebrochenen Figuren seit "Fight Club" immer wieder gespielt, gebrochen, jungenhaft, klug. Aber Lionel hat die Ticks nicht, damit Norton vorführen kann, was er als Schauspieler alles kann. Die Versehrtheit macht Lionel zu einem, der sich an den Rändern der Gesellschaft am wohlsten fühlt. Einmal geht er in eine Bar, um sich dort umzuhören, ob Minna dort gewesen ist. Kaum sitzt er an der Theke, kommt eine junge Blondine und versucht, mit ihm anzubandeln. Lionel stammelt, flucht - und sie geht.

Als die Musik in dem Jazzlokal ihm in die Glieder fährt, hat er Angst, auch Laura Rose zu verschrecken, aber eigentlich ist das hier bald der Ort, in den er sich endlich fügt. Lionel fragt sich durch, gibt sich als Journalist aus und landet in einer Versammlung im Rathaus. Franks Tod hat irgendetwas zu tun mit dem städtischen Bauamt und dem mächtigen Stadtrat Moses Randolph (Alec Baldwin). Lionel kennt sich mit gar nichts aus, er weiß nicht mal, wer der Kerl ist: Herr über die Parks, offiziell - inoffiziell der mächtigste Mann von New York City.

Edward Norton hat aus "Motherless Brooklyn" so eine Art Origin-Story der Gentrifizierung gemacht. In Moses Randolph, das kluge, kalte, machtbesessene Ekel, hat Norton ein reales Vorbild eingearbeitet: Den Stadtplaner Robert Moses, der von den Zwanzigerjahren bis in die Sechziger in New York bestimmte, wer wo baut.

Moses war - wie Moses Randolph im Film - ursprünglich für die Parks zuständig, baute die meisten Brücken, die Manhattan mit den anderen Teilen der Stadt verbinden, und die Parkways, die in die Naherholungsgebiete führen. Ob er nun tatsächlich mit Absicht die Brücken über den Parkways zu niedrig für Busse baute, um die Unterschichten fernzuhalten, ist schwer zu beweisen. Edward Norton sagt in Interviews, wenn er danach gefragt wird, dass er davon überzeugt ist. Die Juden, sagt Lionel in "Motherless Brooklyn" einmal, wurden auch aus ihren Nachbarschaften verjagt, aber lange nicht so gründlich wie die Schwarzen.

Was Lionel aufspürt, ist also ein Geflecht von Bauunternehmern und Politikern. Korrupte Stadträte stellen die Genehmigungen aus, ihre Freunde sorgen für luxuriöse Neubauten, die Arbeiter und Handwerker und Krankenschwestern sind dabei nur im Weg. Lionel trifft einen verwahrlosten, arbeitslosen Ingenieur (Willem Dafoe), der ihm hilft, zu begreifen, wer wovon profitiert. Aber warum wurde Minna umgebracht?

In den USA ist Alec Baldwin fast jede Woche als Donald Trump in der Comedy-Sendung "Saturday Night Live" zu sehen, aber mit Trump hat Moses Randolph nur sehr entfernt zu tun. Mit dessen Vater vielleicht, der auch so ein Bauunternehmer war, der zu Zeiten von Moses sein Vermögen machte. "Motherless Brooklyn" ist eine Herausforderung, man muss Norton schon aufmerksam zuhören, um ihm überallhin folgen zu können.

Aber sein ungewöhnlicher Held gibt dem Film die Balance zurück zwischen intellektueller Konstruktion und reiner Emotion. Lionel muss man lieben - er ist viel zu weich und rechtschaffen und zerbrechlich für die Welt um ihn herum. Einmal, als er allein ist in seinem kargen Zimmer, wandern seine Gedanken zurück in seine Kindheit, vor das Waisenhaus, aus dem sein Chef ihn geholt hat, als er klein war und seine Mutter noch lebte - legte sie die Hand in seinen Nacken, hörten die Ticks auf. Er wird nicht aufgeben, bis wieder eine Hand in seinem Nacken liegt und ihn beruhigt.

Motherless Brooklyn , USA 2019 - Regie: Edward Norton. Drehbuch: Edward Norton, basierend auf dem gleichnamigen Roman von Jonathan Lethem. Kamera: Dick Pope. Musik: Daniel Pemberton. Mit: Edward Norton, Gugu Mbatha-Raw, B ruce Willis, Alec Baldwin, Willem Dafoe. Warner, 145 Minuten.

© SZ vom 11.12.2019 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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