Zum Tod des Rechtshistorikers Michael Stolleis:Stimme zum Grundgesetz

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Allürenfreie Bürgerlichkeit: Michael Stolleis. (Foto: Amrei-Marie/Wiki Commons(CC BY-SA 4.0))

Immer hoch konzentriert, gleichzeitig zugewandt und humorvoll: Eine Erinnerung an den Rechtshistoriker und Dichterfreund Michael Stolleis.

Von Gustav Seibt

Michael Stolleis gehört zu den Gelehrten, die zu groß für Nachrufe sind. Sein Wissen war so gewaltig und dabei so wohlgeordnet, dass eine bloße Übersicht wie der Grundriss eines riesenhaften Palasts voller Säle und Kabinette wirkt, die man doch noch lange nicht betreten hätte, um zur Anschauung zu kommen. Wo immer man eintritt, ist es neu und überraschend, vor allem in den vier Bänden seiner "Geschichte des öffentlichen Rechts in Deutschland" (1988 - 2012), die von der Verwaltung über Soziales und Bildung bis zum Verfassungsrecht, ja der politischen Theorie alles am Recht behandelt, was nicht strikt privat ist, und das für die Neuzeit von 1600 bis zur Wiedervereinigung im Jahr 1990.

Nur ein Beispiel für den unbegreiflichen Reichtum: Einen eigenen Abschnitt widmet Stolleis den "Stimmen zum Grundgesetz". Dieses war nämlich am Anfang keineswegs der große Erfolg, den heute auch Dichter und Intellektuelle feiern. Kritik kam beispielsweise von Publizisten aus dem rechten wie dem linken Lager, die den westlichen Alliierten abgeneigt waren, dafür aber eine romantische Neigung zu Russland hegten - und da taucht plötzlich neben etlichen anderen der Name des Bestsellerautors Heinz G. Konsalik mit seinem "Arzt von Stalingrad" auf: in einer Geschichte des öffentlichen Rechts.

Das darf man hochrechnen auf die 400 Jahre, die das Hauptwerk von Stolleis umfasst. Es behandelt nicht nur das Recht, sondern das öffentliche Gespräch zu Staatsfragen in allen seinen Ausformungen, von der Philosophie bis zur Belletristik.

Er schrieb theoretisch anspruchsvoll, aber glasklar und immer schön

Dabei war Stolleis kein Faktensammler, der einfach Material sortierte. Er schrieb theoretisch anspruchsvoll, glasklar und immer schön. "Der geschichtliche Blick auf das Recht ist der eines Beobachters", so beginnt ein Einführungstext. "Er richtet sich von außen auf das Recht. Sein Motiv ist die Neugier des Historikers, der herausfinden will, wie früheres Recht funktionierte, wie es die sozialen Beziehungen ordnete, welche ,Spielregeln' galten und wie Regelverletzungen sanktioniert wurden. Dieser Blick setzt voraus, dass Recht überhaupt als veränderbar erfahren und verstanden wird, und dass es möglich ist, Dokumente der Vergangenheit daraufhin zu befragen."

Zur Anekdote taugt Michael Stolleis nicht, auch nicht zum farbigen Charakterisieren, mit dem man große Wissenschaftler dem Publikum zugänglich zu machen meint. Er war ein immer konzentrierter, eher leise sprechender, in jedem Sinn zusammengefasster Mensch, zugewandt und humorvoll, aber ohne ordinarienhafte Präsenz, dabei seines Wertes wohl bewusst. Sein öffentlicher Wirkungswille, beispielsweise bei der Aufdeckung des Anteils der Jurisprudenz an der nationalsozialistischen Diktatur, war von großer Entschiedenheit.

Den berühmten Artikel zur klandestinen rechtsradikalen Publizistik des Grundgesetz-Kommentators Theodor Maunz wollte er unbedingt in der FAZ sehen, und es gelang auch, ihn buchstäblich in der letzten Woche der Herausgeberschaft von Joachim Fest ins Feuilleton zu bringen - die Verstimmung des politischen Ressorts war einkalkuliert und blieb in den Tagen des Übergangs absehbar folgenlos. Stolleis war auf seine fein lächelnde Art hochbefriedigt.

Nicht alle wissen, dass Stolleis mehrere Jahre im Präsidium der Deutschen Akademie saß, dem Gremium, das Jahr für Jahr über den Büchnerpreis bestimmt. Selbstverständlich hatte er alles gelesen, überhaupt war seine Kenntnis zeitgenössischer Literatur enorm. Erst vor wenigen Jahren hielt er Lobreden auf Ursula Krechel und Christine Wunnicke, die passionierte Lektüre mit der analytischen Genauigkeit verbanden, die dem Rechtswissenschaftler zweite Natur ist. Den Verrisse-Run auf das "Weite Feld" von Günter Grass hatte er 1995 in gestrengen Gesprächen mit Frankfurter Rezensenten missbilligt. Stolleis war als Rheinhesse, Frankfurter Professor und Institutsleiter Vertreter einer allürenfreien Bürgerlicheit, die es vielleicht nur noch hier gibt. Pompöses Auftreten glitt an ihm ab.

Zu einem Rechtsstreit unter Goethes Erben hat er ein lustiges Hörspiel gemacht

Kein Wunder, dass er ein exzellenter Kenner Goethes war, der als reichsstädtischer Bürger, als Jurist und Minister ohnehin zu seinem Arbeitsgebiet gehörte. Zu einem Rechtsstreit unter Goethes Vorfahren - es ging um unbezahlte Schneiderrechnungen - hat er ein äußerst lustiges Hörbuch mit dem Kabarettisten Michael Quast gemacht, selbstverständlich auf der Grundlage von genauer Aktenkenntnis.

Einmal fragte ich ihn, ob es für Goethes im "West-östlichen Divan" entwickelte These, "dass alle Herrschaft sich ableiten lasse von dem Rechte, Krieg zu erklären" eigentlich frühere Quellen gebe. Stolleis hielt staatsrechtliche Vorlagen (Bodin und seine Nachfolger, auch Montesquieu) für unwahrscheinlich. Eher habe Goethe sich von schottischen Aufklärern wie Adam Ferguson und Henry Home beeindrucken lassen. Aber noch wichtiger war ihm zu bekräftigen, dass Goethe etwas Richtiges sage: "Goethes Erklärung zur Entstehung eines Regiments ist wunderbar klar und in der Sache sicher auch richtig. Es ist eine historisch-genetische und typisierende Erklärung."

Michael Stolleis wurde fast 80 Jahre alt. Bei seinen Freunden, Schülern und Kollegen, darunter viele Dichter, hat sein Tod am 18. März eine Fassungslosigkeit ausgelöst, die sonst nur jugendlichem Sterben zukommt. Juristische Literatur gewinnt ja leicht eine Art fachspezifischer Ewigkeit in der Zeitenfolge kollegialer Professionalität, weil das Recht selbst eine so zähe Sache ist. Die fortbestehende Lebendigkeit von Michael Stolleis geht weit darüber hinaus. Er hat allem, womit er sich befasste, den eigenen Stempel aufgeprägt. "Natur schuf ihn, dann zerbrach sie den Prägstock", heißt es bei Ariost. Das gilt in seltener Harmonie für den Autor Stolleis und seine vielen Schriften.

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