Deutsche Gegenwartsliteratur:Aus dem Düstertal über Tirana nach Rom

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Michael Roes erzählt von Außenseitern, von einer Schwurjungfrau, die die Rolle des fehlenden Sohns übernehmen muss und Männerkleidung trägt. Aber wie weit trägt der Exotismus?

Von Harald Eggebrecht

Drei Orte, drei Welten, drei Geschichten - ein Flechtwerk ist dieser Roman, aber die Stränge sind nicht gleich stark. Im Zuge der Erzählbewegung vom Dorf Lazarú irgendwo tief in den albanischen Bergen weiter nach Tirana, der Hauptstadt Albaniens, weiter nach Rom werden die Eindrücke schwächer, die Erlebnisse flacher und die Akteure verlieren merklich ihre anfängliche Kontur und Aura. Das funktioniert nach dem wohlbekannten Prinzip, dass das unbekannte Fremde erst einmal die größte Aufmerksamkeit und Leseneugier fesselt. Also bleibt der erste Teil, der ins abgründig-archaische Düstertal von Lazarú führt, am direktesten in der Wirkung, während die römische Elegie um den Filmemacher Paolo Piermonte, dessen Ähnlichkeit mit Pier Paolo Pasolini und dessen Schicksal kaum verdeckt ist, viel Gewolltes, Angestrengtes und letztlich doch Vertrautes zu beschwören sucht. Aber das Erblassen der Bilder und das Nachlassen der Spannung im Zuge des Romangeschehens kann Michael Roes nicht bannen.

Der Autor, Jahrgang 1960, ist in seinen Büchern und Filmen verliebt in den inneren und äußeren Exotismus individueller und gesellschaftlicher Ferne, in die Grenzbereiche des auch sexuell Außenseiterischen, Versteckten und Verschwiegenen, fasziniert von Ritualen, Gelübden, Tabus, Träumen und überzeugt von der erneuernden Kraft aus diesen Regionen.

Die Schwurjungfrau muss die Rolle des nicht vorhandenen Sohnes übernehmen

In "Herida Duro" geht es um eine Virgjinesha, eine Schwurjungfrau, die in dieser Funktion die Rolle des nicht vorhandenen Sohnes in einer albanischen Bauernfamilie übernehmen muss, öffentlich den Mannesnamen Marijan trägt und Männerkleider anzieht. Herida/Marijan erzählt von den erbarmungslosen bluträcherischen Gesetzen ihres Dorfes noch zu Partisanenzeiten, die weder Habgier, Diskriminierung noch Vergewaltigung, Mord und Totschlag verhindern. Ins dann kommunistische Tirana gekommen muss sie/er mit Gjon, dem Nachbarsjungen und Freund, in einer Schlachtfabrik unter härtesten Bedingungen arbeiten.

Gjon versucht dem unmenschlichen Elend und der bedrohlichen Zensur des stets gegenwärtigen Geheimdienstes zu entfliehen auf einem Boot nach Italien. Herida/Marijan gerät in die albanische Filmbranche im Dienste des Diktators Enver Hoxha, macht sogar Karriere als Chefbeleuchterin. Der Film wird bei den Filmfestspielen in Venedig ausgezeichnet. So gelangt sie/er schließlich nach Rom, freundet sich mit dem Regisseur Piermonte an, wird dessen Kameramann und dreht endlich den eigenen Film über die Jugend von Jesus, "Gioventù di Gesù".

Parallel dazu läuft die düstere, von Todes- und Dämonenängsten durchdrungene Geschichte der steinzeitlichen Jäger Tawo und Iwo und des von ihnen gefangenen Mädchens Chawa, das von einem feindlichen Volk abstammt. Dabei wechselt die Perspektive, mal erzählt Tawo, mal Chawa, mal der Autor. Roes schwebt dabei, musikalisch gesprochen, eine Art kontrapunktische Struktur vor. Doch es fehlt im gesamten Roman nahezu alles an Licht, Helligkeit, gar an Glanz und Farben jenseits von Anthrazit, Gräue und filziger Dunkelheit.

So liegt über dem Ganzen ein untilgbarer Schleier des Stumpfen, auch Dumpfen und Freudlosen. Gewiss, Roes erzählt intensiv von der Trostlosigkeit römischer Vorstädte, in denen Junkies, Stricher, Flüchtlinge, Kleinkriminelle in heruntergekommenen Wohnlöchern dahinvegetieren und sich herumtreiben. Er versteht es, die brütende Brutalität und die nahezu ausweglosen Sozialzwänge der albanischen Hinterwäldler zu beschreiben, erst recht die grausigen Blut-, Kot- und Fleischorgien des Schlachthauses. Besonders eindringlich gelingen Roes alle Wahrnehmungen des Olfaktorischen: Selten sind Schweiß, Kotze, Rotz, Blut, Urin, alle möglichen Varianten des Fauligen, Pilzigen, Schmutzigen und so fort so eindrücklich und geradezu liebevoll geruchsecht geschildert worden.

Aber das alles kann am Ende die zunehmende Ermüdung nicht aufhalten. Es entfaltet sich zuletzt leider kein von Wissbegier erfülltes kreatives Neuland, sondern das Erzählganze wirkt in einer seltsam unräumlichen kontrastarmen Gleichtönig- und Gleichförmigkeit nach.

Michael Roes : Herida Duro. Roman. Verlag Schöffling & Co., Frankfurt am Main 2019. 584 Seiten, 28 Euro.

© SZ vom 02.07.2019 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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