Martyn Radys Buch "Die Habsburger":Das Erzhaus

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Der Habsburger Karl V. war von 1520 bis 1556 Kaiser des Heiligen Römischen Reichs. Zeitgenössisches Porträt von Christoph Amberger. (Foto: Christoph Amberger)

Was machte die Habsburger so erfolgreich? Martyn Rady erzählt ihre Geschichte im familiären Plauderton.

Von Gustav Seibt

Die Geschichte von Herrscherfamilien ist ein leicht verdächtiges Genre. Einerseits setzt es einen wichtigen frühen Impuls zur Verwissenschaftlichung der Historie fort, der in genealogischer Forschung bestand, die Legitimität in Monarchien sichern oder bestreiten sollte. Andererseits tendiert es dazu, Welt- und Staatengeschichte ins Anekdotische von Familienangelegenheiten zu ziehen. Dann ist man nicht weit entfernt vom pittoresken, künstlich dramatisierten Schauleben, das heutige Medienmonarchien, allen voran die britische, führen müssen.

Da gab es doch diesen Vorfahren, der ein begabter Flötenspieler war, und zwar trotz seiner vorstehenden Unterlippe. Die hatte er von einem noch früheren Ahnen geerbt, dessen Unterkiefer so weit aus dem Gesicht ragte, dass man befürchtete, in dem offen stehenden Mund könnten sich Fliegen einnisten. Die Rede ist, jeder weiß es, von den Habsburgern, und zwar von den Kaisern Leopold I. (Flöte) und Karl V. (Fliegen).

Der in London lehrende Historiker Martyn Rady, ein Fachmann für die Geschichte Südosteuropas, geizt in seinem Wälzer zur Geschichte der Habsburger nicht mit solchen Anekdoten. Aber was heißt Wälzer: 600 Seiten sind ja nicht viel für eine Dynastie, die seit dem 10. Jahrhundert bezeugt ist, die seit dem 13. Jahrhundert immer wieder den deutschen Königs- oder Kaiserthron innehatte und die erst im Revolutionsjahr 1918 abdanken musste - und die auch geografisch weltweit ausgriff, phasenweise vom Pazifik bis in den Balkan. Wer Geschichte im Plauderton schätzt, in dem das charakteristische Detail ebenso viel Gewicht erhält wie der eine oder andere Epochenumbruch, der lernt hier auf unangestrengte Weise eine ganze Menge.

Für ihre riskante Heiratspolitik sind die Habsburger bis heute berühmt

Für den dynastischen Ansatz spricht aber noch ein hintergründigeres Argument: Die Zeit der Geschichte, das Ineinander langfristiger Prozesse und sich überstürzender Ereignisse, wird lebenszeitlich, damit auch naturzeitlich gegliedert, nämlich in Generationen. Eine solche Sichtweise eröffnet Erkenntnischancen, die die Fachwissenschaft gern unterschätzt. Denn der Wechsel von Geburt und Tod lässt auch die Frage nach der Sicherung von Kontinuität dringlich werden. Wie gelang es einer so langlebigen Dynastie wie den Habsburgern, sich als "Haus" zu konstituieren und selbst eine dramatische Lücke in der männlichen Erbfolge wie den Übergang von Kaiser Karl VI. zu Maria Theresia im Jahr 1740 zu bewältigen?

Rady stellt dazu viel Material bereit, er berichtet von den spätmittelalterlichen Selbstmythisierungen (bis ins alte Rom wurde die Genealogie zurückgeführt), von der Erfindung des Titels "Erzherzog", von den Zeremonien im Barock, vor allem von einer auf Neuerwerb und Absicherung ausgerichteten Heiratspolitik. Dafür sind die Habsburger bis heute berühmt. Das Riesenreich Karls V. um 1520 verdankte sich einer Abfolge riskanter Heiraten und unvorhergesehener Todesfälle: Innerhalb weniger Jahre versammelten sich auf dem Haupt des unterbissigen Prinzen die Kronen von Burgund, Kastilien und Aragon, von österreichischen, böhmischen und ungarischen Ländern. Da von Spanien aus damals weite Teile Südamerikas kolonisiert wurden, ging, wie man sagen konnte, in diesem Reich die Sonne nicht unter.

Begabter Flötenspieler: Leopold I., Kaiser des Heiligen Römischen Reiches von 1658 bis 1705. Zeitgenössisches Porträt von Benjamin von Block aus dem Jahr 1672. (Foto: Imago Images/Imago Images)

Diese Ausdehnung erzwang familiäre Arbeits- und Gebietsteilungen zwischen dem Westen und Osten Europas, zwischen Spanien und den Niederlanden, zwischen Österreich und Italien. Gleichzeitig begann deshalb auch ein System von Verwandtschaftsheiraten innerhalb der Großfamilie, das am Ende zu biologisch grotesken Ergebnissen führte: Der letzte Thronfolger der habsburgischen Doppelmonarchie, der 1914 in Sarajewo erschossene Franz Ferdinand, war mit seinem Vorfahren Ferdinand I., dem Bruder Karls V., über mehr als hundert verschiedene Nachkommen verwandt. Oder statistisch noch krasser gewendet: Unter seinen rechnerisch viertausend Vorfahren bis zurück ins 16. Jahrhundert konnten nur etwa 1500 reale Individuen identifiziert werden, so viele Doppelrollen gab es im Aufgebot der Urgroßväter und Urururgroßtanten.

Das berühmteste Produkt dieser Politik des Inzests war Karl II., der 1700 verstorbene letzte spanische Habsburger. Er war von Geburt schwer krank. Die nicht besonders appetitlichen Befunde referiert Rady aus einem urologischen Fachorgan. Und doch konnte der offensichtlich regierungsunfähige Karl, der als Fünfjähriger seinem Vater nachfolgte, 35 Jahre unangefochten König bleiben, wenn auch unter höfischer Kuratel.

Metternich, der den Habsburgern in Wien seit 1809 vierzig Jahre lang als leitender Staatsmann diente, sprach anlässlich solcher Konstellationen vom "Wunder des Legitimismus". Die legitime Erbfolge hatte eine so starke rechtliche Bindekraft, dass es auf die Fähigkeiten des jeweiligen Herrschers nicht ankam. Das setzte natürlich beträchtliche Ressourcen an höfischen, ständischen, später konstitutionellen Selbstregierungsfähigkeiten in den betroffenen Monarchien voraus. Und hier liegt der Haupteinwand gegen Radys Buch: Ihm fehlt gebührendes Staunen über das legitimistische Wunder. Härter gesagt: Ihm fehlt eine erkenntnisleitende Fragestellung.

Das Wunder des Legitimismus, das den Habsburgern jahrhundertelang gelang, bleibt hier leider unerklärt

Das Haus Habsburg agierte nicht allein, es war Teil eines Dynastienverbunds, der seit der frühen Neuzeit zu einem gesamteuropäischen System wurde. Die hier erwachsende Legitimität beruhte nicht zuletzt auf wechselseitiger Anerkennung, verstärkt durch immer erneuerte Verwandtschaftsbande unter unbedingt Gleichrangigen. Damit wurde eine enorme zivilisatorische Errungenschaft abgesichert, nämlich der meist unblutige Machtwechsel. Neben den modernen Wahldemokratien sind Erbmonarchien die Staatsform, in denen Machtwechsel am wenigsten gewaltsam verlaufen. Schon Monarchien mit unklaren Erbregelungen - beispielsweise das julisch-claudische Kaiserhaus im Rom des ersten nachchristlichen Jahrhunderts oder die russischen Zaren im 18. Jahrhundert - versanken leicht in Mord und Totschlag.

So ist das Wunder des Legitimismus eng mit einem weniger farbigen, abstrakteren historischen Prozess verbunden, nämlich den europäischen Staatsbildungen seit dem späten Mittelalter. Hier waren die Habsburger Protagonisten, was bei Rady aber nur punktuell erläutert wird. Das fantastisch traditionsbewusste Erzhaus blieb bis in die letzte Generation auch eine Instanz sich immer überholender Modernisierungen. Womöglich wäre ohne den Ersten Weltkrieg unter einem Kaiser Franz Ferdinand eine weitere Stufe zu einem multinationalen Staat erreicht worden.

Martyn Rady: Die Habsburger. Aufstieg und Fall einer Weltmacht. Rowohlt Berlin, Berlin 2021. 624 Seiten, 34 Euro. (Foto: N/A)

Die Habsburger wurden nicht groß in einem Land und durch ein Land wie die Könige von Frankreich, sie wurden nicht begleitet von einem gleich starken Parlament wie in England, sie schufen sich im Südosten Deutschlands einen Monarchienverbund, den es ohne die Dynastie nicht gegeben hätte. Das ist das eigentliche Wunder, vergleichbar nur mit der Konsequenz, mit der die Hohenzollern im 17. und 18. Jahrhundert aus einem wirtschaftlich schwachen norddeutschen Streugebiet eine schlagkräftige europäische Großmacht formten.

Das sind Prozesse, die über das Anekdotische hinausreichen. Wie man sie historiografisch fassen kann, das hat der geniale Sozialhistoriker Otto Hintze 1915 in seinem Jubiläumsbuch "Die Hohenzollern und ihr Werk" exemplarisch vorgeführt, übrigens auch stilistisch meisterhaft, ohne sich im methodischen Klein-Klein zu verlieren. Martyn Rady hat ein unterhaltsames, meist auch im Detail verlässliches Buch geschrieben, die Fragen muss der Leser selbst mitbringen.

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