Ukrainisches Tagebuch:Erinnerung an Mariupol

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Oxana Matiychuk arbeitet an der Universität von Tscherniwzi (Czernowitz) im Westen der Ukraine. (Foto: Universität Augsburg/Imago/Bearbeitung:SZ)

R., eine Freundin der Autorin, und ihre Mutter lebten in Mariupol. Ihre Flucht vor den Verheerungen des Kriegs dauerte Tage, sie Begann zu Fuß und gelang nur mit sehr viel Glück.

Von Oxana Matiychuk

Zu Hause sage ich, wir bekommen noch mehr Gäste, aus Mariupol. R. und ihre Mutter fahren mit einem Evakuierungszug von Dnipro nach Lwiw und dann sofort weiter nach Czernowitz, am 25.März um 20.10 Uhr sind sie da. Wir holen die beiden mit dem Auto ab. Auf der Fahrt fragt mein Schwager, ob es stimmt, was von Mariupol in den Nachrichten erzählt wird. Ja, sagt die Mutter, die Stadt wird permanent bombardiert, seit vielen Tagen gibt es keinen Strom, keine Heizung, kein Wasser, kein Gas, keine Telefonverbindung. Tote können nicht bestattet werden. Sie musste auch schon Regenwasser sammeln, Trinkwasser ist in der Stadt rar.

Zu Hause gibt es warme Suppe, dann erzählen sie wieder. Sie wohnten zuletzt nicht zusammen, und weil es gar keine Verbindung gab, wussten sie nichts voneinander. Die Mutter wurde im Auto von Bekannten nach Dnipro mitgenommen. Sie ging davon aus, dass ihre Tochter die Stadt bereits früher verlassen konnte. R. und ihre Freundin harrten aber noch in der Wohnung der Freundin aus. Eines Tages machten sie sich zu Fuß auf den Weg. Die Informationen über die humanitären Korridore waren spärlich, teils widersprüchlich. Alle Autos voll, keines hielt an. So marschieren sie etwa zehn Kilometer zu Fuß, passieren mehrere Checkpoints - die von den Russen und von der sogenannten "Polizei der Volksrepublik Donezk". Überall müssen sie Arme und Waden entblößen - es wird geprüft, ob keine "ukrainisch-patriotischen" Tattoos oder Spuren vom Waffentragen vorhanden sind. In einer Massenunterkunft, wo sie eine Nacht verbringen, werden sie aufgefordert, sich mit Passdaten zu registrieren, angeblich für den Fall, wenn sie von Verwandten gesucht werden würden. Sonst würden sie Probleme mit der "Polizei der Volksrepublik Donezk" bekommen. Sie schaffen es gerade noch zu flüchten, dem Chaos und vielen Menschenmassen sei Dank.

Für Brot muss man anstehen, dagegen gibt es viele Würste zu kaufen - in der Stadt funktioniert eine Fleischfabrik

Essen unterwegs zu kaufen, ist nahezu unmöglich, die Geschäfte sind geschlossen oder ausgeplündert. Im Ort Mangusch verkauft eine Frau direkt an der Straße ihre Hausvorräte - Kartoffeln und Eingemachtes, die Preise sind etwa das Sechsfache von den "Friedenspreisen". Bei einer Bekannten der Bekannten dürfen sie umsonst schlafen. Am Tag suchen sie nach Evakuierungsbussen und finden tatsächlich einige - mit russischen Kennzeichen. Sie kehren um. Dann haben sie ein großes Glück: Sie entdecken durch Zufall ein Auto mit dem Schild "Volunteer" und werden nach Berdjansk mitgenommen. Die Stadt ist durch Russen besetzt, jedoch sind überall in der Stadt ukrainische Fahnen. Die Soldaten verhalten sich hier sehr ruhig. Für Brot muss man anstehen, dagegen gibt es viele Würste zu kaufen - in der Stadt funktioniert eine Fleischfabrik. Die Freundinnen finden den Sammelplatz, von dem ukrainische Evakuierungsbusse fahren. Sie melden sich an - für den 69. Bus. Gerade fährt der 24. los. Keiner weiß, wie regelmäßig und wie viele fahren.

Und dann haben sie ein zweites Mal großes Glück: Es klappt das, was davor schon mehrfach gescheitert ist. Die internationale Organisation, für die R. arbeitet, findet einen Fahrer, der bereit ist, die beiden Freundinnen und noch einen Mitarbeiter nach Saporischschja rauszufahren. Es gibt noch einen vierten Passagier: Einen 84-jährigen Mann, einen Georgier, der die Ukraine schon längst seine Heimat nennt. An einem russischen Checkpoint spricht er mit einem Soldaten, der offenbar aus dem Kaukasus kommt. Was sucht er denn in der Ukraine, er soll sich schämen, dass er ins unabhängige Land gekommen ist, um zu morden. Gott sei Dank gibt es keine Eskalation. Den Mitfahrern erklärt der Alte stolz, sein Sohn sei ein General in der ukrainischen Armee. Vielleicht stimmt das auch, meint R., denn ortsweise wird der Fahrer von dem Sohn telefonisch gelotst, manche Straßen sollte man meiden. Dann endlich ein ukrainischer Checkpoint. Sie haben es geschafft.

Die Schule von R. gibt es übrigens nicht mehr. Die Mutter sah, wie eine Bombe darauf fiel

Erst im Gespräch wird mir bewusst, dass der Krieg die beiden bereits zum zweiten Mal aus ihrem Zuhause vertreibt. Sie stammen eigentlich aus Altschewsk, die Stadt befindet sich heute im besetzten Gebiet, in der sogenannten "Luhansker Volksrepublik". 2014 gingen sie in die Ukraine, sagt die Mutter. R. machte in Mariupol ihr Abitur. Die Schule von R. gibt es übrigens nicht mehr. Die Mutter sah, wie eine Bombe darauf fiel: "Sehr genau, sehr akkurat wurde sie auf das Gebäude abgeworfen." Ich muss in diesem Moment an die Worte vom russischen Außenminister Lawrow denken, der es ähnlich zum Ausdruck brachte. Die Ziele in der Ukraine werden "filigran, sehr genau" getroffen. Aus der linguistischen Sicht liegt dabei wohl eine Bedeutungserweiterung vor.

Zum Studium ging R. nach Czernowitz. Weiteres weiß ich, R. studierte Verwaltungswissenschaften, sie nahm aktiv am Kulturleben in Czernowitz statt, unmittelbar vor dem Pandemiebeginn machte sie ein Praktikum bei uns im Zentrum Gedankendach, der Kontakt blieb erhalten. Im Dezember vorigen Jahres machte R. ihren Master, das Studium fand größtenteils online statt, sie ging zurück nach Mariupol und fand eine Stelle bei einer internationalen Organisation. Wir sahen uns zuletzt im Dezember 2021, sie erzählte begeistert von ihrer Arbeit und davon, wie stark sich die Stadt zum Positiven verwandelt, ich nahm mir fest vor, R. einmal in Mariupol zu besuchen.

Als ich meine Gäste in ihr Zimmer begleite, sagt R. lebhaft: "Ich will Ihnen etwas zeigen. Als wir in der belagerten Stadt ohne jegliche Verbindung nach außen, ohne Strom und Heizung saßen, lasen wir bei Tageslicht Bücher. Ein Buch nahm ich mit, mehr ging nicht. Es ist das, was Sie mir geschenkt haben: 'Sie kam aus Mariupol' von Natascha Wodin. Es wird jetzt meine Erinnerung an Mariupol sein."

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