Ronya Othmanns Lyrikdebüt "die verbrechen":Narbenlandschaft Kurdistan

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Bestelltes Land um jesidische Dörfer am Dschabal Sindschar, einem Höhenzug im Nordirak, nahe der Grenze zu Syrien. (Foto: Jacob Silberberg/AP)

Von Nordsyrien bis in den Osten der Türkei. Ronya Othmanns Gedichte pflügen sich durch ein Land, das es nur jenseits von Grenzen gibt.

Von Nico Bleutge

Wer in Ronya Othmanns erstem Gedichtband liest, durchstreift eine karge Gegend. Eine Landschaft jenseits festgesetzter Grenzen, irgendwo zwischen Geografie und Historie, Mythos und Sprache. Ein "müdes, müdes land", wie es einmal heißt, das sich von Nordsyrien bis in den Osten der Türkei und in den Irak und in Iran hinein erstreckt. Doch vor allem ist es ein Gelände, in dem sich die geschichtlichen und ideologischen Spuren eines Jahrhunderts mit den Erinnerungen der Sprecherin mischen. Bilder von Soldaten stehen hier neben Momenten innerer Unruhe, und die Landschaft ist zugleich ein Protokoll der Zeit und der persönlichen Verluste.

Auch wenn vieles in diesem Band geografisch offen gehalten ist, muss man beim Blättern immer wieder an die Fluchtszenarien denken, die Ronya Othmann in ihrem Romanerstling "Die Sommer" skizziert hat, der im letzten Jahr erschienen ist. Es ist vor allem die Geschichte ihres Vaters und ihrer Großeltern. Und dort heißt das Land Kurdistan - ein Kurdistan jedoch, das nichts mit den Kitschvorstellungen eines Karl May zu tun hat: "Kurdistan lag in der Syrischen Arabischen Republik, reichte aber darüber hinaus. Es hatte keine offiziell anerkannten Grenzen. Der Vater sagte, dass sie die rechtmäßigen Besitzer des Landes waren, dass sie aber trotzdem nur geduldet waren und oft nicht einmal das."

Als jesidische Kurden waren die Familienmitglieder eine verfolgte Minderheit. Der Vater bekam Schwierigkeiten mit Hafiz al-Assads Geheimdienst und musste 1980 über die Türkei nach Deutschland fliehen. Die Großmutter und andere Verwandte folgten viele Jahre später nach. Wo Othmann sich für den Roman eine personale Erzählsituation ausgesucht hat, verwendet sie in ihren Versen fast ausnahmslos die Du-Form. Mit dem Du redet sich die Sprecherin selbst an, Othmann schleust aber auch andere Stimmen durch dieses Personalpronomen in die Gedichte ein, und immer wieder leuchten dabei die Figuren des Vaters und der Großmutter auf.

Ronya Othmann: die verbrechen. Gedichte. Carl Hanser Verlag, München 2021. 112 Seiten, 20 Euro. (Foto: N/A)

Diese Gedichte trügen einen neuen Ton in die Gegenwart, verspricht der Verlagstext. Das stimmt nicht ganz. Das Spiel mit der Du-Ansprache und die vielen sinnlichen Details, die eher harmonischen Lautfiguren und ein meist eingängiger Rhythmus sind Momente, die man in der Art etwa schon aus Gedichten der Zeitgenossinnen Anja Kampmann oder Nadja Küchenmeister kennt.

Trotzdem lassen sich in Ronya Othmanns Versen immer wieder großartige Entdeckungen machen. Eines der wichtigsten Motive ist das Verhältnis von Sehen und Wissen zueinander. Die Fixierung auf Wahrnehmungsnuancen verleiht den Versen ihre sensorische Fülle. Hier erlebt man nicht nur das an- und abschwellende Licht auf den trockenen Feldern, sondern auch "ein zucken in den halmen" oder den Geschmack des "lösstoffs im tee". Wobei das Benennen und die Kenntnis der exakten Bezeichnungen (vom "maulbeerbaum" über die "amaryllis" bis zum "kapuzinerkraut") eine große Rolle spielen. Als wollte die Sprecherin sich ein ums andere Mal versichern, was es alles gibt und dass es noch da ist - weil sie erfahren musste, dass die Dinge (und Menschen) jederzeit verloren gehen können.

Dieses immanente Wissen um Verluste und das Nicht-Vergessen-Können zeigt sich an zahllosen Kleinigkeiten, von aufgebrochenen Türen bis zu Schüssen im Wasser. Dazu gehören aber auch die Erzählungen der Familie über große Ängste, Verfolgung und ermordete Verwandte. So entsteht das Bild einer "zerschossenen landschaft", die eine Erinnerungslandschaft ist und immer wieder in Widerspruch treten kann zu den lyrischen Aufnahmen von Natur, die ab und an aufblitzen. Nicht von ungefähr lautet eine der wichtigsten Zeilen des Bandes "du siehst nicht, was du weißt".

Das Sprechen und Schreiben scheint wie die Feldarbeit der Bauern: ein dauerndes "umgefurche"

Es sind vor allem Fragen, die diese lyrische Suchbewegung vorantreiben. Die Landschaftserkundung ist hier stets auch Selbsterkundung. Die Idee der Überblendung wird an einer Stelle eigens ins Bild gebracht: "als sähest du dir fotos an, die jemand durch ein / autofenster geschossen hat und in denen sich ein polster, / ein kopf, ein arm im himmel spiegeln und in / der landschaft oder einem haus verschwinden". Wer Gewissheiten sucht, wird sie hier nicht finden. Und auch wenn die Sprecherin versucht, den Verlust des "zu eigen gemachten landes" durch Strophen zu ersetzen, in denen sie "wohnen" kann, will ihr das Sprechen und Schreiben eher wie die Feldarbeit der Bauern erscheinen: ein dauerndes "abgepflüge, / herumgeackere, umgefurche".

Am intensivsten wirken die Gedichte dort nach, wo sie die Form von Listen annehmen. Nicht zuletzt diese Inventare, in denen Vorstellungen vom Aufzählen, Beschwören und Verlieren gleichermaßen mitschwingen, verleihen dem Band seinen elegischen Grundton. Dabei werden Trauer und Wehmut vielleicht etwas zu oft direkt benannt. Viel stärker sind die Verse dann, wenn sie die Tränen in Wörtern wie "strähnen" nur anklingen lassen. Ronya Othmann faltet in ihren Gedichten ein "vernarbtes gelände" auf. Und an den besten Stellen gelingt es ihr, dieser Narbenlandschaft eine genaue Entsprechung in einer "verkarsteten stimme" zu geben.

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