Lyrik:Aufgeklapptes Leben

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Die Gedichte des niederländischen Autors Ted van Lieshout werden begleitet von meerblauen Illustrationen, die die Klappbilder der gereimten und freien Lyrik begleiten. Sprache als Erlebnis.

Von Nico Bleutge

Wer verliebt ist, für den ist alles voller Geheimnisse. Selbst das Wort "Liebe" wird dann rätselhaft und entzieht sich immer wieder. Und sollte man es doch einmal erwischen, könnte man es gewiss nicht sehen oder gar in einer Schachtel aufbewahren. "Ich kenne die Buchstaben, aus denen das Wort besteht, / und schreiben kann ich es tausendmal, und lesen. / Und immer noch löst sich Liebe nicht vom Papier."

Ted van Lieshout ist einer der Großen der niederländischen Kinder- und Jugendliteratur. Viele seiner Veröffentlichungen siedeln nah an seiner eigenen Lebensgeschichte - und aus jedem Text macht er ein kleines Kunstwerk. Nicht von ungefähr lautet der Titel seines ersten Gedichtbandes "Aus Trauer lassen sich lustige Hütchen falten". Bis heute folgten rund ein Dutzend weitere Bände, aus denen jetzt eine Auswahl von gut 40 Gedichten vorliegt.

Wie kleine Kippbilder lassen sich die Verse immer auf mindestens zwei Arten betrachten. "Wie klappe ich mich selber auf", heißt es da, "Ich möchte mich mal lesen, / blättern und zählen / wie viele Seiten ich hab." Natürlich ist es nicht nur ein Buch, das hier spricht. Gemeint ist vielmehr jeder von uns, der sich gerne mal aufklappen möchte und nachsehen, wer er denn eigentlich ist, was er sich wünscht und was ihm das Leben schenken kann. Wie gut, dass die Gedichte nicht didaktisch mit Antworten daherkommen, sondern allenfalls lose Hinweise geben, vor allem aber: Fragen stellen. Die bewegliche Form der Gedichte entspricht ihren wichtigsten Motiven. "Ich möchte gern wissen, wann Erwachsensein beginnt", lesen wir einmal. All die Unsicherheiten, die das Älterwerden bestimmen, die Fragen und Wünsche, die Verluste und Träume mitsamt den Gefühlen, die in alle Richtungen rasen, holt Ted van Lieshout in seine Gedichte. Gereimt und ungereimt, in festen Formen ebenso wie in freien Rhythmen - der Übersetzer Rolf Erdorf hat die Möglichkeiten schön im Deutschen aufgefaltet. Und Brigitte Püls schenkte ihnen ein meerblaues Zuhause, das sehr gut zu Ted van Lieshouts Kippbildern passt. Denn das Blau kann sich verwandeln, manchmal zeigt nur eine Haifischflosse am Horizont oder ein Turm an, ob es sich um das Meer oder um den Himmel handelt.

Das Beste an diesen Gedichten ist: Man spürt ein großes Bewusstsein dafür, dass Verse nicht einfach aus Gefühlen und Gedanken bestehen, sondern aus Sprache. In die muss all das, was man erlebt hat, übersetzt werden, in Klänge und Rhythmen und Bilder, damit ein Leser Gefühltes und Gedachtes aus den Buchstaben für sich herausholen kann. Und zugleich bleibt die Einsicht, auch das großartigste Gedicht kann die Erfahrungen der Liebe niemals ersetzen. Es klafft ein Spalt zwischen den Dingen und den Wörtern, und aus dem Wissen um diesen Spalt gewinnen Ted van Lieshouts Gedichte ihre Kraft - und ihre Schönheit.

Ted van Lieshout : Wo bleibt das Meer? Gedichte. Mit Illustrationen von Brigitte Püls. Aus dem Niederländischen von Rolf Erdorf. Susanna Rieder Verlag, München 2017. 60 Seiten, 14,50 Euro.

© SZ vom 04.08.2017 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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