Es kann niemand behaupten, der Nobelpreis für Louise Glück sei völlig überraschend, immerhin konnte man bei Ladbrokes mit der sehr guten Quote von 25 zu eins auf sie setzen. Damit war sie unter den dreißig Favoriten der englischen Buchmacher, noch vor Karl Ove Knausgård, Michel Houellebecq und Stephen King, sogar vor dem unter "Both Strauss" gelisteten Vater-Sohn-Gespann aus der Uckermark.
Ein wenig aber darf man sich verwundert die Augen reiben, dass es, was an der Zeit gewesen wäre, keinen Autor, keine Autorin vom afrikanischen Kontinent getroffen hat. Auch dass nach Kazuo Ishiguro vor drei Jahren erneut eine Person aus der englischsprachigen Welt ausgezeichnet wird, und nach Bob Dylan vor vier Jahren wieder jemand aus den USA, erstaunt schon.
Literaten-Glückspiel:And the winner is: Both Strauss
Der Literaturnobelpreis elektrisiert, zumindest die Wettspielbranche.
Aber warum wurde dann gerade Louise Glück, Jahrgang 1943, der Preis zugesprochen und nicht etwa dem Dichterkollegen Charles Simic, der bei Ladbrokes noch ein paar Plätze über ihr gelistet war? Sind am Ende also tatsächlich allein literarische Gründe für das schwedische Komitee ausschlaggebend? Ist Louise Glücks Lyrik derart hoch anzusehen, höher als die von Simic, höher auch als die ihrer kanadischen Kollegin Anne Carson?
Nun ist Louise Glück hierzulande als Dichterin nahezu unbekannt. Zwei Bände hat Ulrike Draesner 2007 und 2008 für die Sammlung Luchterhand übersetzt, "Averno" und "Wilde Iris". In den USA aber ist ihr Ansehen hoch. Seit 1968 hat sie mehr als ein Dutzend Gedichtbände veröffentlicht, die Liste ihrer Auszeichnungen und Ehrungen ist beinah endlos. Darunter sind der National Book Award, der Tranströmer Preis und der Pulitzer Prize für "Wilde Iris". Auch Poet Laureate war sie, ihr nobelpreisverdächtiger Kollege Robert Hass nennt sie eine der "reinsten und vollendetsten Dichterinnen". Immer wieder wird die Einfachheit ihrer Sprache hervorgehoben, ihre Fähigkeit, wie es im Poetry Magazine aus Chicago heißt, "so zu dichten, dass viele Menschen die Gedichte verstehen und sich zu ihnen in Beziehung setzen können".
Laut der US-Kritik gibt es "kaum eine Dichterin, die so deprimiert klingt"
Massenkompatible Gedichte: ein zumindest mal zweifelhaftes Lob. Allerdings sind Glücks Gedichte alles andere als feel-good-poems. Vielmehr gibt es, so heißt es zumindest in einer US-Rezension zu "Averno", "abgesehen von Sylvia Plath kaum eine Dichterin, die so deprimiert klingt".
Enttäuschung, Zurückweisung, Selbstentfremdung und Verlust gelten, auch wenn das wie ein Widerspruch in sich klingt, als klassische Glück-Themen. Damit steht sie in der Tradition der Confessional Poetry einer Anne Sexton oder eben einer Sylvia Plath. Mit ihrer kanadischen Kollegin Anne Carson oder der englischen Lyrikerin Alice Oswald verbindet sie die Vorliebe für Figuren der antiken Mythologie. So schreibt sie in "Averno" die Geschichte der Persephone neu: nicht als eine Geschichte des Raubes, sondern als eine der Flucht. Persephone habe nicht mehr bei ihr Mutter Demeter bleiben wollen und sich deswegen Hades angeschlossen. Der Dichter und Übersetzer Jürgen Brôcan konstatierte dazu in der NZZ: "Es geht um Abschied und Rückkehr, Körper und Seele, fatale Mutter-Tochter-Bindungen, Zukunftsängste und Erinnerungen, Schönheit, Natur, die Möglichkeiten und Unmöglichkeiten der Liebe. Oder anders: Wie sind Kälte, Hässlichkeit, Vergänglichkeit zu ertragen? Wie kann man leben, wenn man die Hölle gesehen hat? Diese Fragen trägt Louise Glück in einer einfachen, klaren, schnörkellosen Sprache vor, lyrisch aufgeladen, ohne Pathos, manchmal allzu schmerzhaft subjektiv, doch zeigt sich gerade hierin die Stärke von Glücks Gedichten: dass sie im gleichen Atemzug robust und verletzlich sind."
Man konnte in dem Band schon damals aber auch gedanklichen Kitsch erkennen und der Meinung sein, die Dichterin trage ihr Künstlertum mit einiger Gespreiztheit vor sich her. Und auch heute gibt es stärkere Dichterinnen und Dichter, die man hätte auszeichnen können. Oder Prosaautoren wie Annie Ernaux und David Grossman, die ebenfalls von Schmerz, Verlust und Trauer schreiben, dabei aber deutlich machen, inwiefern diese Verwundungen nicht zuletzt durch gesellschaftliche Zustände bedingt sind (und diese wiederum bedingen).
Vielleicht ist Privatismus ja ein Zeichen der Verunsicherung
Aber vielleicht ist der Privatismus der Glück-Gedichte ja ein Zeichen der Zeit, gibt es doch in der Corona-Pandemie genug äußere Verunsicherungen. Mit der neuen Nobelpreisträgerin kann man sich für einen Moment wieder auf klassische Themen zurückziehen, auf das vertraute Terrain innerfamiliärer Spannungen, aufs Psychologische, auf gescheiterte Ehen und Mutter-Tochter-Probleme.
Und so könnte man sagen, dass der Preis für die so unpolitische Lyrik von Glück, die sich wenig für gesellschaftliche Strukturen interessiert, die immer auch sprachliche Strukturen sind und deswegen mitunter einer gewissen Komplexität bedürfen, dass die Entscheidung für Glück eben doch eine politische ist. Womöglich wünscht sich die Schwedische Akademie, dass wir uns auf die Kraft der Poesie besinnen, womöglich will sie Schönheit, Vergänglichkeit, Trauer als tiefe menschliche Empfindungen gegen die Oberflächlichkeit, Würdelosigkeit, Verlogenheit dessen setzen, was wir täglich aus dem Weißen Haus zu sehen und zu hören kriegen.
Von Persephone zu den Confessional Poets: Louise Glück ist eine konservative Dichterin. In ihrem Essay "Amerikanische Originalität" von 2001 beschreibt sie, warum das amerikanische Publikum von Literatur und Kunst erwartet, "neu" zu sein, aber auch nicht zu originell: "Das Neue wird zu einer Art Kleber, der seine vielen Vorläufer (provisorisch) zu einem Netz oder System zusammenfügt: einer Fantasie oder Projektion gemeinsamer Werte."
Die literarischen Werte, das muss man wieder einmal so sehen, wurden mit dieser Preisentscheidung mit Füßen getreten. Denn blättert man in "Wilde Iris", herrscht allerorten höchster Kitschalarm: "depressiv ja, aber doch leidenschaftlich/ dem lebendigen Baum zugetan, mein Körper/ sogar in den gespaltenen Stamm geschmiegt, beinah friedvoll, im Abendregen/ beinah fähig zu fühlen,/ wie Saft schäumt und steigt." Manch einem steigt da die Galle hoch.