Literaturnobelpreis:Auszüge aus Mo Yans Nobelvorlesung im Wortlaut

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"Ich sehe, wie ein Preisträger mit Blumen überhäuft, aber auch mit Steinen beworfen und mit Dreckwasser überschüttet wird": Auszüge aus der Nobelvorlesung des chinesischen Literaturnobelpreisträgers Mo Yan vom 5. Dezember im Wortlaut.

Drei Tage vor Entgegennahme des Literaturnobelpreises erläutert der Chinese Mo Yan bei seiner Nobelvorlesung den eigenen persönlichen und literarischen Werdegang. Der 57- Jährige weist zugleich Kritik an seiner politischen Rolle innerhalb des chinesischen Machtsystems zurück. Er erzählt aber auch eine Geschichte, mit der er zu mehr Zivilcourage auffordern wollte.

Auszüge der Nobelvorlesung Mo Yans, die vorab verbreitet wurde, im Folgenden im Wortlaut:

"Es gab im Zuge meiner Auszeichnung mit dem Nobelpreis einige Diskussionen. Anfangs hielt ich mich selbst für den Grund dieser Debatten, bis mir allmählich klar wurde, dass der Gegenstand der Debatte jemand war, der mit mir so gut wie nichts zu tun hatte. Ich fühle mich wie ein Theaterbesucher, der dem Treiben auf der Bühne zusieht. Ich sehe, wie ein Preisträger mit Blumen überhäuft, aber auch mit Steinen beworfen und mit Dreckwasser überschüttet wird.

(...)

Eigentlich wollte ich mich nicht zu dieser Debatte äußern, doch heute muss ich hier sprechen, und deshalb will ich ein paar Sätze dazu sagen. Ich bin ein Geschichtenerzähler, also erzähle ich Ihnen eine Geschichte. In den 60er Jahren des vergangenen Jahrhunderts, als ich in die dritte Klasse der Grundschule ging, mussten wir uns einmal eine Ausstellung über das Leid unseres Volkes ansehen.

Um den Erwartungen des Lehrers zu entsprechen, brachen wir alle in ein großes Geheule aus. Damit der Lehrer sich von meinem Entsetzen überzeugen konnte, wischte ich mir die Tränen nicht aus dem Gesicht. Ich sah, wie einige Mitschüler sich heimlich Speichel über das Gesicht schmierten, damit es aussah, als ob sie weinten. Ein einziger Schüler trug inmitten all der echten und falschen Tränen ein tränenloses Gesicht zur Schau, er gab keinen Ton von sich und barg auch das Gesicht nicht in den Händen. Er starrte uns mit großen Augen erstaunt, vielleicht auch ungläubig, an. Hinterher schwärzte ich ihn bei unserem Lehrer an und der Schüler bekam eine Disziplinarstrafe.

Als ich viele Jahre später jenem Lehrer gestand, dass ich mein Verhalten von damals bereue, erzählte er mir, dass ich an jenem Tag nicht der einzige gewesen sei, der den Mitschüler angeschwärzt hatte. Dieser Mitschüler ist bereits einige Jahre tot, aber jedes Mal, wenn ich mich an ihn erinnere, bin ich tief beschämt. Dieser Vorfall hat mir eines begreiflich gemacht: Wenn alle weinen, dann sollte es einen geben, der nicht weint. Und wenn das Geheule zudem nur zur Schau gestellt ist, dann ist es umso wichtiger, dass einer sich dem Weinen verweigert.

(...)

Ich bin ein Geschichtenerzähler. Weil ich ein Geschichtenerzähler bin, wird mir der Nobelpreis für Literatur verliehen.

(...)

Ich werde auch weiterhin meine Geschichten erzählen."

Auszüge aus der Nobelvorlesung von Mo Yan am 5. Dezember in Stockholm, Copyright und Übersetzung: Schwedische Akademie

Die vollständige Rede findet sich auf der offiziellen Website der Nobelpreise.

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