Literaturfest München:Schlumpfautos und Warteschlangen

DDR-Bürger warten auf Begrüßungsgeld, 1989

Anstehen fürs Begrüßungsgeld: Tausende von DDR-Besuchern warteten im November 1989 vor dem Stadtsteueramt an der Herzog-Wilhelm-Straße; in München gab es 50 Mark mehr als anderswo. "Und das soll München nicht verändert haben?" fragt der Schriftsteller Fridolin Schley.

(Foto: Karl-Heinz Egginger/SZ-Photo)

Beim "Forum:Autoren" des Literaturfests schweift man erst ins ferne China, um dann vor der Haustür zu enden: Wie war das, als im November '89 die ersten DDR-Bürger in München ankamen - und hatte das Auswirkungen auf die Stadt?

Von Yvonne Poppek und Antje Weber

Die Erinnerung fällt Xiao Xiao schwer. Die chinesische Dichterin wägt ab, zögert. Das Ergebnis sei nicht absehbar, morgen reise sie zurück nach China. Was also erzählen über ein Land und über ein Jahr, wenn es zurück zu Hause vielleicht Schwierigkeiten gibt? "Fragen an die Welt nach 1989" hat Kurator Ingo Schulze seine Forum:Autoren-Reihe überschrieben. '89 ist nicht nur das Jahr des Mauerfalls, sondern auch das Jahr des Tian'anmen-Massakers, ein zensiertes Thema in China. Die 1964 in Sichuan geborene und heute in Peking lebende Schriftstellerin wurde nach den Aufständen 1989 selbst kurz verhaftet, ihr damaliger Lebensgefährte Wan Xia saß im Gefängnis. Was sie davon in der Seele trage, bleibe ewig, sagt sie. Von diesen Erinnerungen zu sprechen, ein Wagnis.

Über dem etwas mehr als einstündigem Gespräch am Freitagabend im Saal des Literaturhauses liegt etwas Schwermütiges. Schulze hat Xiao Xiao gemeinsam mit dem Sinologen, Dichter und Übersetzer Wolfgang Kubin eingeladen, Moderator ist Tilman Spengler. Beide Autoren haben Texte zum Thema vorbereitet. Kubin schreibt vom "Ende der Illusionen", von Zensur, davon, dass er die SPD heute verachte und 1989 das Jahr war, in dem er zur evangelischen Kirche zurückkehrte. "Wir sind heute jedoch am Ende. Es wird keine besseren Zeiten mehr geben." Kubin hält seinen Pessimismus nicht zurück, sagt aber immerhin: "Ob ich das wirklich so sehe? Vielleicht doch nicht."

Xiao Xiao hat sich - trotz ihrer Bedenken - entschieden, in ihrem Text von 1989 zu erzählen. Sie schreibt, wie sie verhaftet und verhört wurde, wie befreundete Dichter ins Gefängnis kamen - darunter auch Liao Yiwu, der mit dem Friedenspreis des Deutschen Buchhandels und dem Geschwister-Scholl-Preis ausgezeichnet wurde. Sie kritisiert allerdings ihren einstigen Freund, wirft ihm vor, Dinge falsch darzustellen, seinen eigenen Vorteil genutzt zu haben, "unser Leid zum Kapital zu machen". Es wird deutlich: Opposition ist nicht gleich Opposition. Auch in China klaffen hier Gräben.

Doch tiefer ins Detail zu gehen, dafür lässt das knappe Format nicht die Zeit. Es ist ein kleiner Eindruck, den Xiao Xiao und Kubin von einem Land geben, das - wie Schulze es formuliert - eine Sprachmauer umgibt, die nur schwer zu durchdringen ist. Dass jenseits dieser Mauer vieles durchaus komplexer, vielstimmiger gedacht werden darf, lässt dieser Abend dann aber doch erahnen.

Eine Familie aus München-Aschheim, am Tag des Mauerfalls gemeinsam vor dem Fernseher: Die Mutter weint stundenlang vor lauter Rührung, der Vater schaltet immer wieder wortlos zum Tennis um, die Schwester nutzt die Gelegenheit, um heimlich rauchen zu gehen. "Dazu ein Unbehagen, das über allem schwebt." Das sind die Erinnerungen des Schriftstellers Fridolin Schley an jenen 9. November, doch er ahnt, dass sie auch trügerisch sein können.

Wovon er jedoch überzeugt ist: dass sich damals etwas verändert hat - auch im Selbstverständnis der Stadt München. Kurator Ingo Schulze hatte ihn und die Kollegen Dagmar Leupold, Katja Huber und Tilman Spengler gebeten, sich in Texten der Frage "Im Westen nichts Neues?" zu stellen. Dazu hatte die AZ einen Aufruf an ihre Leser gestartet; einige von ihnen sitzen an diesem letzten und mit fast drei Stunden vielleicht längsten Abend des Forum:Autoren ebenfalls auf dem Podium und tragen ihre Texte vor. Zwei Moderatoren und insgesamt neun Gäste in zwei Runden - das ist kein eben kleines Programm. Doch es geht ja auch, wie einmal mehr deutlich wird bei diesem Forum:Autoren, um ein großes, komplexes Thema.

Fridolin Schleys Analyse des München-Phänomens ist dabei die wohl die am tiefsten gehende. Er glaubt, dass München mit Mauerfall und Wiedervereinigung der Zustand eines "Dazwischen" verloren ging, das zuvor noch verschwommenere, improvisiertere und zum Teil lässigere Selbstverständnis einer Stadt zwischen den Zeiten. Heute dagegen komme München ihm manchmal vor "wie die Ästhetik seiner digitalen Abbilder - kristallklar, glatt und ein bisschen leblos". Trotz allem Wandel scheine die Idee, die München von sich habe, inzwischen fixiert zu sein: von "Laptop und Lederhose" bis sogar hin zu "München ist bunt" - alles "Label wie Verkaufsetiketten". Und das habe angefangen, als am 10. November die ersten berstenden Züge sowie Tausende von "Schlumpfautos" aus Thüringen ankamen, denn München legte noch 50 Mark aufs Begrüßungsgeld drauf. Wenig später saßen, nur zum Beispiel, in den Schulklassen neue Mitschüler, die keine Mengenlehre kannten. "Und das soll München nicht verändert haben?"

Nicht alle stimmen Schley zu. Nichts habe sich geändert, sagt Co-Moderator Adrian Prechtl, der viel "Ignoranz" der nach Italien ausgerichteten Münchner gegenüber dem fremden Osten erlebt hat; Arroganz und Selbstgefälligkeit beschreiben auch Ralf Kratzert oder Katja Huber. Deutlich wird in den Texten und Diskussionen auch, dass schnell, allzu schnell alles diskreditiert war, was mit der DDR zu tun hatte - und erst seit einiger Zeit viele der Themen verstärkt wieder aufkommen, von der Kita-Betreuung bis zur Konsumkritik. Immer wieder beschreiben die Autoren in ihren Texten auch, was es überhaupt bedeutet, als Zugereister in München zu leben. Dagmar Leupold etwa fühlt sich nach 30 Jahren hier immer noch als "Ankömmling, Status: schön fragwürdig".

Sehr unterschiedlich sind die Perspektiven; ein "unrepräsentativer Ausschnitt", schließt Schulze, "aber ein Anfang". Ein Resümee will er nach 31 Veranstaltungen seines Forum:Autoren über die "Welt nach '89" nicht ziehen, er verweist auf die Texte, alle auf der Webseite nachzulesen. Nicht nur er wirkt zufrieden mit der angestrebten "Differenzierung": Als Spengler lobt, wie "notwendig, wichtig und gescheit" seine Themenstellung gewesen sei, kann man nur zustimmen.

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