Literaturfest:Ein kurzer Frühling

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Der New Yorker Cartoonist Ken Krimstein beim Literaturfest. (Foto: Pavel Brož)

Marcial Gala und Ales Stěger sprechen über den Sozialismus

Von Martina Scherf und Eva-Elisabeth Fischer, München

Kuba und Slowenien, Karibik und Balkan - gibt es zwischen so unterschiedlichen Weltregionen überhaupt Gemeinsamkeiten? Marcial Gala und Ales Stěger mussten da nicht lange suchen. Beide sind im Sozialismus aufgewachsen, und diese Prägung, da waren sie sich einig, wird man ein Leben lang nicht los. Die Doppelbödigkeit der verordneten Moral, das Misstrauen selbst gegen die eigene Familie, der Geschmack von billigem Zucker und die Sehnsucht nach Erlösung, das kennen sie zur Genüge - mit dem Unterschied, dass Stěger, Jahrgang 1973, seit fast 30 Jahren in einer liberalen Demokratie lebt, während Gala, Jahrgang 1965, sich in seiner Literatur noch immer an der sozialistischen Realität seiner Heimat Kuba abarbeitet.

Beim Gespräch beider im Literaturhaus sagte Gala, der Frühling nach dem Besuch von Barack Obama sei von kurzer Dauer gewesen. Unter Kubas neuer Führung seien die persönlichen Spielräume noch enger geworden. Galas aktueller Roman "Die Kathedrale der Schwarzen" ist ein sarkastisches Sittengemälde einer Gesellschaft, die Erlösung in religiösem Wahn sucht, und in der Geldgier alle menschlichen Beziehungen vergiftet. Gala hat seiner Heimat vor Kurzem den Rücken gekehrt, er lebt aktuell in Buenos Aires. Seine Frage an die Welt: Was ist von 1989 noch übrig in Zeiten von Religionskonflikten, Nationalismus, Rassismus und Umweltzerstörung?

Der slowensiche Autor Ales Stěger griff in seiner Analyse zur Metaphorik. "Der Zerfall Jugoslawiens war ein Anfang und ein Ende, für viele eine Kehre zum Lebensglück, für viele eine Schreckensstunde, für alle aber ist es eine Zeitfurche und eine Karotte." Etwas wächst immer aus so einer Furche, soll das heißen, aber es kommt darauf an, was man daraus macht. Jugo-Nostalgie oder Slapstick-Erinnerung an den Diktator - ob Tito oder Castro - bringe niemanden weiter. Trauma-Arbeit sei nötig und eine Archäologie des Alltags. Nur so könne sich der Osten befreien. Denn was blieb, da waren sich beide einig, sei die Dominanz des Westens über den Osten und den Süden der Welt. Und Kuba hat sein '89 erst noch vor sich, schloss Moderator Sebastian Schoepp.

Was hätte, hiermit Rachel Salamanders Frage folgend, Hannah Arendt zu dieser Veranstaltung gesagt? Wäre sie bei dieser als "Lange Hannah-Arendt-Nacht" angekündigten Buchvorstellung im Literaturhaus zugegen gewesen, hätte sie, die Kettenraucherin, entweder draußen vor der Tür bleiben müssen; oder sie hätte die drei Stockwerke erklimmen und, sich dem Verdikt der Mehrheit beugend, aufs Rauchen verzichten müssen. Derlei Mutmaßungen taugen als Bild für eines der Kernthemen dieses Abends, mit dem sich jeder Jude seit der Aufklärung und vor der zionistischen Idee auseinanderzusetzen hatte: sein Leben als assimilierter Parvenu, als Aufsteiger, der sein Judentum hinter sich lässt, zu leben, oder als Paria, als Ausgestoßener.

Als diese Alternativen und ihre Folgen in ihren unerquicklichen Voraussetzungen und Konsequenzen ausgelotet wurden anhand eines berühmten Arendt-Essays zur jüdischen Existenz, waren die beiden aus sehr unterschiedlichen Positionen argumentierenden, durchaus humorigen und schon deshalb einander freundlich zugetanen Diskutanten bereits mittendrin. Der israelische Soziologe Natan Sznaider und die Autorin Marie Luise Knott, welche die Auswahl der von Ursula Ludz bei Piper herausgegebenen Schriften von 1932 bis 1966 für den großartigen Band "Wir Juden" getroffen hat, konnten sich zumindest darin einigen, dass Arendts Analyse zu Parvenu und Paria deren bis 1943 währende Begeisterung für den Zionismus entflammte. Denn vor Palästina/Israel hatte ein Jude, anders als ein Ausländer, der irgendwo immer auch ein Inländer ist, kein Land, in dem er sich als solcher fühlen konnte.

Man hätte aus den in "Wir Juden" versammelten Schriften gewiss leichter Zugängliches auswählen können. Aber schon der Titel dieses Sammelbandes "Wir Juden", der kein "Ihr" kennt, wirft reichlich Fragen auf. Das Leichtere, aber nicht unbedingt Seichtere kam nach kurzer Pause: Hanns Zischler stellte die gewitzte Graphic Novel "Die drei Leben der Hannah Arendt" des New Yorker Cartoonisten Ken Krimstein vor. Und dieser demonstrierte - am Anfang war das Wort - live zeichnend, wie er zu Arendts alterungstauglichem Abbild fand.

© SZ vom 21.11.2019 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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