J. M. G. Le Clézio: "Bretonisches Lied":Zeit der Verwilderung, Zeiten des Lichts

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"Wenn ich über den Krieg spreche, habe ich keinerlei Abstand. Nur Gefühle, Empfindungen". Der Literaturnobelpreisträger Jean-Marie Gustave Le Clézio. (Foto: Catherine Hélie/Editions Gallimard/KiWi)

Erst kommt der Schreck, dann die Wut. Literaturnobelpreisträger J. M. G. Le Clézio erzählt von Kindern, die im Krieg aufwachsen. Das ist aktueller denn je.

Von Frauke Meyer-Gosau

Das hat niemand ahnen können, dass Jean-Marie Gustave Le Clézios 2020 im Original veröffentlichter Prosaband "Bretonisches Lied", der zwei autobiografische Kindheitserinnerungen des Literaturnobelpreisträgers enthält, sich beim Erscheinen der deutschen Übersetzung als derart aktuell erweisen würde. "In Frankreich hat der 2. Weltkrieg am 3. September 1939 begonnen", lautet der erste Satz der Erzählung "Das Kind und der Krieg". "Ich bin in Nizza am 13. April 1940 zur Welt gekommen. Die ersten fünf Jahre meines Lebens waren Kriegsjahre. Für mich kann dieser Krieg - wie alle Kriege - nicht nur ein historisches Ereignis sein. (...) Wenn ich über den Krieg spreche, habe ich keinerlei Abstand. Nur Gefühle, Empfindungen, jenen unbeständigen Fluss, der ein Kind zwischen dem Tag seiner Geburt und dem Beginn seines bewussten Gedächtnisses im Alter von fünf oder sechs Jahren trägt."

Und dann steigt Le Clézio zurück in den Fluss der Erinnerung und lässt sich von den Sinneseindrücken tragen, die seine kindliche Wahrnehmung vor fast 80 Jahren in sich aufgenommen hat. Gelesen unter dem Eindruck der aktuellen Nachrichten aus der Ukraine rückt da hautnah heran, was sich auch heutigen Kriegskindern in die Seele brennt: das Leben unter einer unablässigen Bedrohung, die ihnen niemand erklären und vor der sie niemand bewahren kann. Das Versagen der Sprache vor der mörderischen Realität. Und die Selbstverständlichkeit schließlich, mit der die Kinder das hinnehmen, denn für sie "ist alles, was geschieht, normal, sie ahnen nicht, dass ihr Leben anders aussehen könnte". Der Schrecken ist ihre alltägliche Wirklichkeit. Und der hat später, wenn der Friede zurückgekehrt ist, eine "blinde Wut" im Gefolge, "grundlose, gegenstandslose Wut" sowie "das Bedürfnis, unsere Wut an irgendetwas auszulassen, zu prügeln, zu schreien, zu beißen" - das Kind ist in den Kriegsjahren in die Gewalt hineingewachsen.

Eigenwillige Kartoffelkäfer und ein forscher Tintenfisch

Und doch beginnt dieses Buch ganz anders, im Hellen gewissermaßen, im Frieden, der auf die frühesten Erfahrungen folgt. Es sind die Fünfzigerjahre, und jedes Jahr im Sommer fährt die Familie Le Clézio mit ihrem schon ziemlich klapprigen Auto die beträchtliche Strecke von Nizza bis ins Departement Finistère in der Bretagne. Hier, im Dorf Ker Huel, beziehen Vater, Mutter und die beiden zunächst acht- und zehnjährigen Söhne ein kleines Ferienhaus. Die Erzählung "Das bretonische Lied", die dem Band den Titel gegeben hat, erzählt vom "Ende eines Zeitalters und dem Beginn eines neuen, aber wir wussten nichts davon. Wir konnten glauben, dass alles immer so bleiben würde". Und dies genau macht alle Erlebnisse, Unternehmungen und Beobachtungen der Kinder so unbeschwert und schließt zugleich Sentimentalität rundweg aus: In ihrem Erleben gibt es noch keinen Gedanken an ein späteres Vermissen, Veränderung ist nicht ihr Thema.

J.M.G. Le Clézio: Bretonisches Lied. Zwei Erzählungen. Aus dem Französischen von Uli Wittmann. Verlag Kiepenheuer & Witsch, Köln 2022. 186 Seiten, 22 Euro. (Foto: N/A)

So ziehen die Kinder durch einen Landstrich, in dem eine andere Sprache als das Französische gilt, wo etwa die beiden Adoptivtöchter der Bauernfamilie Le Dour angehalten sind, mit den vermeintlichen Parisern ("Parizianern") Französisch zu sprechen "und von uns vornehme Manieren zu lernen" - dabei sprechen die beiden Mädchen selbst perfekt Französisch, und für die vornehmen Manieren sind die beiden Jungs aus Nizza auch nicht gerade die richtigen Lehrmeister.

Mit seinen Blicken in dieses arme, traditionsbestimmte und in sich reibungslos funktionierende Landleben beleuchtet Le Clézio die Fischerei jener Jahre ebenso wie die Erntewochen oder die religiösen Gebräuche. Und er erzählt von der alten Adligen, die allein in ihrem Schloss Le Cosquer wohnt und sich während der deutschen Besatzung geweigert hatte, mit den Feinden zusammen auf ihrem Besitz zu leben. Jetzt, da sie aus ihrem Stadtexil zurückgekehrt ist, öffnet sie im Sommer für ein Wochenende die Tore zum Schlosspark und lädt das Dorf zu einem großen Fest ein, mitsamt Blaskapelle und bretonischen Dudelsackpfeifen, mit Messe und Kirchenliedern, einem üppigen bäuerlichen Buffet, Wettspielen und einem großen abendlichen Ball. "Und inmitten von alledem die unsichtbare Anwesenheit der Marquise", erinnert sich Le Clézio, "die in ihrem Schlafzimmer im ersten Stock geblieben war und dem Lärm des Festes lauschte."

Das Besondere an diesen Miniatur-Beobachtungen ist die Sinnlichkeit, mit der Le Clézio uns alles, was sein literarisches Gedächtnis gespeichert hat, vor Augen und Ohren ruft: das Wasser wie die Hitze, den Regen wie all die Gerüche und Geräusche, die Begegnungen des Jungen mit der Natur, seine Beschäftigung mit Kartoffelkäfern, die sich nicht dressieren lassen wollen, oder auch einem Tintenfisch in einem Tümpel am Meer, der sich immer wieder vorsichtig dem nackten Fuß des Jungen nähert. "Wenn ich bei Ebbe allein herkomme, gehe ich in den Teich, dann gleiten die leichten Fangarme aus dem Loch, berühren meine Füße und ringeln sich um meine Knöchel. Wenn ich mich bewege, ziehen sie sich zurück. Und so bleibe ich reglos im Rauschen von Wind und Meer stehen."

"In einem Land, in dem Krieg herrscht, gehen die Kinder nicht nach draußen."

Noch einmal wird hier also eine mittlerweile weitgehend verschwundene Welt mit Kinderaugen gesehen. Doch zur Nostalgie besteht für Le Clézio kein Anlass. Immer wieder schaltet sich in die Erinnerungen der Rechercheur ein, der zwanzig Jahre nach seinen Kindheitserlebnissen wieder in die Bretagne zurückgekehrt ist und seither deren Entwicklung aufmerksam verfolgt. Und er macht kein Geheimnis daraus, dass das Verschwinden mancher regionaler Besonderheiten durchaus zum Besseren der Bewohner war - etwa, wenn die Landreform die handtuchschmalen Einzelfelder zu einem großen Ackergelände zusammenzog und so verhinderte, dass alte Bauern, die von den Erträgen ihres Landes nicht mehr existieren konnten, sich zum Ende ihres Lebens in den Brunnen stürzten.

Wie das Leben in Frankreich vor siebzig Jahren war, im Norden wie im Süden, und wie es seither geworden ist, an dieser allgemeinen Leitlinie bewegt sich der Inhalt beider Erzählungen dieses Bandes entlang, und da ist dann auch, immer wieder eingestreut in kürzeren Abschweifungen, etliches zu erfahren über die Familiengeschichte der Le Clézios, deren ursprünglicher Heimatort das bretonische Le Cleuziou war und deren Name sich aus dem bretonischen Wort für Stechginster herleitet. Aus der Bretagne nämlich war ein Vorfahr, "ein leidenschaftlicher Republikaner, Verfechter des Föderalismus", nach der Französischen Revolution nach Mauritius ausgewandert, das damals noch französisch war und später britisch wurde. Sodass Jean-Maries Vater ein britischer Staatsangehöriger war und, nachdem er seine französische Cousine geheiratet hatte, auch diese und ihre gemeinsamen Kinder zu Briten machte. Während der deutschen Besatzung - die Mutter war mit ihren alten Eltern und den beiden kleinen Söhnen in Nizza geblieben, während der Ehemann als Arzt für die britische Armee in Afrika arbeitete - musste die Familie deshalb vor den Nazis in ein Gebirgsdorf fliehen. So wuchsen die Kinder im ersten Stock eines Lagergebäudes hinter abgeklebten Fenstern und zugezogenen Fensterläden auf: "In einem Land, in dem Krieg herrscht, gehen die Kinder nicht nach draußen."

Familiengeschichte als Revolutionsgeschichte, ebenso als Geschichte von Krieg und Verfolgung, beides verbindet sich in Le Clézios Erzählungen miteinander. Das leuchtende Zentrum aber ist das, was die Kinder sahen und hörten. Wie sie durch die Erfahrung des Krieges brutalisiert wurden und verwilderten, und wie sie hernach, als der Frieden zurückkehrte, die wundersame Fähigkeit zu einem Leben in Angstlosigkeit wiedergewannen. Bretonische Lieder, schreibt Le Clézio, erinnerten ihn an jenen tönenden Felsen am Meer, der zu "singen" beginnt, wenn bei heftigen Stürmen ein Schiffbruch sich ankündigt (und die Dorfleute schon losgehen, um das Strandgut zu bergen): ein Gesang vom Untergang des einen, der das Leben anderer bereichern wird - zugleich ein Bild für das, was diese Literatur ausmacht.

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