Literatur:Rafael Chirbes über ein Land am Abgrund

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Berlin (dpa) - Spanien liegt am Boden. Überall werden Immobilien zu Ramschpreisen feilgeboten. Die Banken kollabieren, die Staatsschulden erreichen schwindelerregende Höhen, ebenso die Zahl der Arbeitslosen.

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Berlin (dpa) - Spanien liegt am Boden. Überall werden Immobilien zu Ramschpreisen feilgeboten. Die Banken kollabieren, die Staatsschulden erreichen schwindelerregende Höhen, ebenso die Zahl der Arbeitslosen.

Das ganze Land, noch vor kurzem „eine einzige Baustelle“, hat jetzt „etwas von einem verlassenen Schlachtfeld oder Waffenstillstandsgebiet“. So beschreibt Rafael Chirbes (64) in seinem neuen Roman „Am Ufer“ Spanien in der Krise. Chirbes, über Jahrzehnte gewissenhafter Chronist seines Landes, ist damit in der ungemütlichen Gegenwart angekommen.

In gewisser Weise ist „Am Ufer“ die direkte Fortsetzung von „Krematorium“, dem 2007 erschienen Roman über die spanischen Boomjahre. Darin beschrieb Chirbes den sagenhaften Aufstieg eines Architekten, der seine Ideale dem Sog des Geldes opfert und am Ende die spanische Küste mit seinen schäbigen Bettenburgen verschandelt. „Krematorium“ ist eine ätzende Kritik am Kapitalismus, der die Seelen der Menschen zerstört und am Ende nur Verlierer hinterlässt. Chirbes bezeichnet sich selbst als Pessimisten, und so ist auch der neue Roman von einer düsteren Grundhaltung bestimmt.

Die Euphorie der Boomjahre ist hier längst einer allgemeinen Katerstimmung gewichen. Stellvertretend für den Niedergang steht der Schreiner Esteban. Weil er den falschen Versprechungen eines windigen Bauunternehmers auf den Leim gegangen ist, ist er nun pleite. Mit ihm stehen auch seine Angestellten vor dem Nichts, darunter der Marokkaner Ahmed. In ihm spiegelt sich das typische Immigrantenschicksal wider. In den Wachstumsjahren als Arbeitskraft heiß begehrt, ist er nun der Bodensatz unter den Losern.

Ein Verlierer auf ganzer Linie ist zweifellos auch Esteban. Mit seinem uralten, pflegebedürftigen Vater lebt er allein in seinem Elternhaus, wo er seinen entschwundenen Träumen nachhängt. Niemals wollte er die Schreinerei seines Vaters übernehmen, niemals in seinen Heimatort zurückkehren. Doch er hatte einfach nicht den Mut, sich abzuseilen. Die große Liebe seines Lebens, Leonor, entschied sich vor langer Zeit für seinen Jugendfreund, den erfolgreichen Weinkritiker Francisco. Er konnte ihr ein Leben inmitten von getrüffelten Truthähnen, polyglotten Menschen und Hotelzimmern mit Blick auf den Genfer See bieten. Für Esteban blieben Säge, Hammer, Drillbohrer und rumänische Nutten.

Nicht einmal in der roten Ideologie seiner Väter findet er eine Zuflucht. Der Großvater wurde von den Rechten erschossen, der Vater saß im Gefängnis. Bei Esteban dagegen ersetzt blanker Zynismus die Heldenbiografie. Für ihn ist der Mensch nichts weiter als ein „zusammenflickter Sack voll Dreck“ und das Menschenleben „die größte ökonomische Verschwendung in der Natur“. Eine liebevolle, fast väterliche Beziehung entwickelt er allein zu der jungen kolumbianischen Pflegerin Liliana.

„Am Ufer“ ist eine bitterböse Abrechnung mit dem Spanien der Gegenwart. So kaputt wie die Landschaft an der zerstörten Mittelmeerküste sind auch die Menschen. Der handlungsarme Roman rollt die Ereignisse in einem langen inneren Monolog aus der Rückschau auf. Darin eingestreut sind bisweilen nicht weiter gekennzeichnete Dialoge. Vom Leser erfordert diese Aufbereitung eine gewisse Konzentration. Chirbes ist ein großer Autor, doch man reibt sich an seinem düsteren Weltbild, an seiner rauen, manchmal obszönen Sprache.

Rafael Chirbes: Am Ufer, Antje Kunstmann Verlag, München, 432 Seiten, 24,95 Euro, ISBN 978-3-88897-867-8

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