Literatur:Offen für das Andere

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In der Natur am Starnberger See findet die indische Schriftstellerin Ruhe und Einsamkeit. (Foto: Geetanjali Shree/oh)

Die indische Schriftstellerin Geetanjali Shree ist Gast in der Villa Waldberta in Feldafing und stellt nun in München ihr neues Buch "Im leeren Raum" vor

Von Laura Helene May

Blauer Himmel, schneebedeckte Berge, zwitschernde Vögel, wiegende Baumkronen und der Starnberger See. Das ist die Kulisse, die sich vor dem Balkon des Apartments in der Feldafinger Villa Waldberta erstreckt. Derzeit wird die Unterkunft von Geetanjali Shree bewohnt, die normalerweise in Neu-Delhi lebt. Ihre Heimatstadt hat mehr als 16 Millionen Einwohner und gehört zu den Metropolen mit der höchsten Luftverschmutzung weltweit. Viel krasser könnte der Gegensatz kaum sein. Seit Anfang Mai wohnt die indische Schriftstellerin in dem Haus, das die Stadt München internationalen Kunstschaffenden immer wieder temporär zur Verfügung stellt. "Alles was ich hier tue, ist die gute Luft zu inhalieren und zu schreiben", erzählt die 52-Jährige. Bei dieser Ruhe falle ihr sogar der Lärm eines einzelnen Autos auf.

Geboren im nordindischen Bundesstaat Uttar Pradesch, gehört die promovierte Historikerin zu den wichtigsten Stimmen aktueller Hindi Literatur. Oft wird hierbei ihre Rolle als Frau betont. Geschlecht ist für sie jedoch zweitrangig. Sie sei, aus der Mittelschicht kommend, in dieser Hinsicht privilegiert und komfortabel aufgewachsen und würde gerne einfach als Schriftstellerin und nicht primär als "Frau, die schreibt" wahrgenommen werden. Wie überall auf der Welt hängt es vor allem vom sozialen Umfeld ab, welche Möglichkeiten ein Mensch hat. "In meiner Jugendzeit war es ein Riesending in den Westen zu gehen." Heute fände man in den meisten Gesellschaftsschichten ein Familienmitglied, das irgendwo im Ausland lebe. Kosmopolitischer würden die Leute dadurch nicht unbedingt. Zwangsheirat funktioniere auch über nationale Grenzen hinweg, und Menschen verschiedener Herkunft seien sich ohnehin viel ähnlicher als sie glaubten. "Konservative und liberale Menschen gibt es überall."

Als ihr 1993 erschienener Erstlingsroman "Mai" im Jahr 2000 ins Englische übersetzt wurde, erlangte Geetanjali Shree auch international eine gewisse Bekanntheit. Bei Lesungen in Europa sei ihr erstmals aufgefallen, wie sich Menschen und Gesellschaften ähneln. "Eigentlich dachte ich, die Leute kämen zu meiner Lesung, um etwas über Familienstrukturen des exotischen Ostens zu erfahren. Aber dann stellte sich heraus, dass viele Besucher sich in meinen Geschichten wiederfanden. Ein Zuhörer meinte sogar, er hätte durch mich gelernt, seine Mutter zu respektieren."

Diese Verbundenheit weltoffener Menschen ist für die indische Schriftstellerin jedoch nur eine Seite der Medaille des technischen Fortschritts und der globalen Annäherung. Auf der anderen Seite, so Geetanjali Shree, sehe man an extremistischen Tendenzen weltweit, dass viele Menschen das Bedürfnis nach klarer Führung und nationaler Abgrenzung hätten. All die lauten, mächtigen Männer in der Politik wie Narendra Modi seien ja demokratisch gewählt. Man dürfe nicht den Fehler machen, die Unterschicht als dumm abzustempeln, "die wissen schon, wen sie wählen". Lüge und Wahrheit seien heute so schwer zu unterscheiden. "In unserer Zeit verspürt man als Schriftstellerin den Druck, sofort und unmittelbar die Wahrheit zu sagen", sagt Shree. "Literatur und Kunst sollten aber eher für die Ewigkeit geschaffen werden." Sie müsse ihren Raum als Schriftstellerin schützen, denn wer Literatur machen möchte, könne kein Propagandapamphlet schreiben.

In ihrem aktuellen Buch "Im leeren Raum" bewegt sich Geetanjali Shree auf einem schmalen Grat zwischen Fiktion und Realität und erzählt die Geschichte von Überlebenden eines Terroranschlags. "Terrorismus nimmt den Menschen die Möglichkeit, ein einfaches, normales Leben zu führen. Über diesen Verlust wollte ich schreiben." Auch wenn Geetanjali Shree keine direkt politische Schrift verfasst, mit ihrem neuen Roman zeigt sie die Folgen einer intoleranten Gesellschaft auf, in der Meinungsfreiheit nicht mehr selbstverständlich zu sein scheint. Intoleranz sei die größte Gefahr und ihre allergrößte Angst, sagt Geetanjali Shree .

Geetanjali Shree: Im leeren Raum ; Lesung, 26. Juni, Eine-Welt-Haus, Schwanthaler-Str. 80, und 17. Juli, Villa Waldberta, Höhenbergstr. 25, Feldafing, jeweils 19 Uhr

© SZ vom 22.06.2019 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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