Literatur und Corona:Eine Pandemie sucht ihren Autor

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Die Zeit hat sich grell verlangsamt und beschleunigt zugleich, auch auf dieser Wiese in Hannover, April 2020. (Foto: Julian Stratenschulte/dpa)
  • Im Literaturbetrieb warnten viele früh davor, in der Corona-Krise könne zu viel Literatur mit ungeordnetem Gegenwartsbezug entstehen.
  • Dabei hat gerade die Literatur Verfahren entwickelt, mit zerstückelter Weltwahrnehmung etwas anzufangen.
  • In der Zeit der Pandemie wäre es wieder plausibel, Moment für Moment mitzuschreiben wie es Vertreter der Popliteratur, zum Beispiel Rainald Goetz, taten.

Von Marie Schmidt

Es soll Leute geben, die lesen im Lockdown endlich "Krieg und Frieden". Es gibt aber auch sehr viele, die lesen seit Wochen nervös das halbe Internet durch, auf der Suche nach irgendeiner Nachricht, die ihnen Frieden verschafft in der Pandemie. Ein erlösender Text ist unauffindbar, stattdessen lesen wir: Widerstreitende Expertenmeinungen, Zahlen und Kurven ohne Bezugsgrößen, Ansteckungsrisikoeinschätzungen, Intensivbettenkapazitätsrechnungen, Maßnahmenkataloge, Exitstrategien und dazu Berichte aus jedermanns kleinem Winkel vom Maskennähen, Aus-dem-Fenster-Schauen, Angsthaben.

Niemand kann jetzt schon sagen, in welcher Geschichte wir uns im Augenblick befinden. Gerade routinierte und leidenschaftliche Romanleser sehnen sich deshalb nach der weltordnenden Funktion der Literatur: Alleine die Dramaturgie einer Erzählung gibt dem Leser gewöhnlich Hinweise darauf, wie sie angelegt ist, wo man sich in der Geschichte gerade befindet (Exposition oder kurz vorm Höhepunkt) und worauf das Ganze möglicherweise hinausläuft. Überraschende Wendungen sind auch in Büchern möglich, stehen aber in einem fein austarierten Verhältnis zu den in der Handlung herrschenden Wahrscheinlichkeiten, laufen also eigentlich kontrolliert ab.

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Die Realität der weltweit sich ausbreitenden Krankheit, über die man noch sehr wenig weiß, spottet gerade jeder Dramaturgie, jeder literarischen Einfriedung, und deshalb war die Enttäuschung diesmal noch schneller da als die ersten literarischen Antworten auf die Corona-Pandemie. Verleger, Journalistinnen, Kommentatoren riefen in den sozialen Medien zum Innehalten auf: Bitte jetzt keine Quarantäne-Romane, keine Pandemie-Tagebücher, keine Ausnahme-Dystopien. Es schien der Eindruck zu bestehen, dass für eine sich stündlich ändernde Lage bei gleichzeitig eingefrorenem Alltag die Literatur nicht das richtige Medium sei.

Dabei hat gerade die Literatur Verfahren entwickelt, mit zerstückelter Weltwahrnehmung etwas anzufangen, zuletzt besonders die missverständlich Popliteratur genannte Richtung. Deren Autoren begeisterten sich für Momente, die sogleich überholt sind. Man muss jetzt wieder daran denken, wie Rolf Dieter Brinkmann, Andreas Neumeister, Thomas Meinecke, Rainald Goetz, Kathrin Röggla sich in der friedlicheren Hälfte des 20. Jahrhunderts vom dramaturgischen Tiefsinn befreiten und mehr aus der Gegenwart machten als den prekären Punkt zwischen "davor" und "hoffentlich wird gleich alles besser".

Das Protokoll der Krise ist so wirr wie die Krise selbst

So hat es jedenfalls der Germanist Eckhard Schumacher interpretiert in seinem einschlägigen Buch "Gerade Eben Jetzt. Schreibweisen der Gegenwart". Darin steht auch, dass man der Popliteratur voraussagte, sie werde schnell altern, wegen ihrer nerdigen Verknalltheit in den Alltag, die Moden, das Rauschen der Nachrichten. Und es ist ja auch still geworden um sie. Aber seit sich die Zeit durch die Ausbreitung der Pandemie grell verlangsamt und beschleunigt zugleich, wäre es wieder plausibel, Moment für Moment mitzuschreiben wie die alten Popisten.

Kein Wunder, dass sich gerade ein feuilletonistisches Subgenre der Beschwörung ihres zentralen Protagonisten zu bilden scheint: "Rainald Goetz - warum schweigt er", fragte im Winter Thomas Palzer im Bayerischen Rundfunk, "Es ist Zeit, den Arzt unter den deutschen Dichtern zu mobilisieren" titelte die Welt über einem offenen Brief an den studierten Mediziner. Aber von Goetz kein Pieps, ein bisschen, als sei er durch mit der Gegenwart. Er hat ja lange vor Quarantäne und Corona-Tagebüchern schon mal ein Jahr lang mitgeschrieben, wie er Nachrichten las, überhaupt las, mit interessanten Leuten sprach, telefonierte, faxte, dachte und schrieb.

Das erschien im Internet, später als Buch: "Abfall für alle". Da ist zum Beispiel unter dem Datum des 10. April, der im Jahr 1998 wie heuer der Karfreitag war, im enthusiastischen Goetz-Stil von der Sprache die Rede, "die das dauernd getippte Sprechen so vieler Leute via Internet hervorbringen würde, (...) ein bestimmter Sound, der dort kultiviert würde, der dann wieder seine eigenen Probleme hat, in Richtung Realitätsverniedlichung manchmal, in eine Art Widerstandslosigkeit der Darstellung hinein, die dann manchen Weltgegenständen doch nicht mehr so richtig entspricht usw usw." Das hat sich auf fatale Art bewahrheitet. Heute mag es Schriftsteller beim Mitschreiben der Gegenwart hemmen, dass diese "Praxis", wie Goetz es nannte, kollektiviert worden ist: In sozialen Medien schreiben sehr viele Menschen sekündlich mit, und gelesen wird das zur gleichen Zeit. Das Protokoll der Krise ist vielstimmig und wirr wie die Krise selbst. Trotzdem schreiben daran auch viele Schriftsteller mit, auf den Seiten von Zeitungen, Literaturhäusern, Festivals. Dabei stellt sich heraus, dass noch etwas anders geworden ist: Das Gefühl, das vom Jetzt ausgeht. In den guten Zeiten der Popliteratur, schreibt Schumacher, sei mit dem "instabilen Zustand" ein "produktives Moment" verbunden gewesen, das Versprechen, von jedem neuen Augenblick könne eine Revolution der lahmenden Verhältnisse ausgehen. Heute steht die Instabilität für ein schreckliches Risiko. Die Gegenwart wirkt bedrohlich. So beschreibt der Autor und Queer-Theoretiker Paul B. Preciado für das Magazin Artforum, wie ihm in der Covid-Quarantäne das Jetzt erstarrte: "Zwischen Fieber und Angst dachte ich mir, dass die Parameter organisierten Sozialverhaltens sich für immer geändert haben und nicht mehr modifizierbar sind. Ich spürte das mit solcher Überzeugung, dass es mir in die Brust stach, sogar als mir das Atmen wieder leichter fiel. (...) Die Veränderung würde sich als Kristallisation des organischen Lebens zeigen, als Digitalisierung von Arbeit und Konsum und als Entmaterialisierung des Begehrens."

Wie sich die Gegenwart depressionsähnlich aufwölbt, erzählt auch die österreichische Schriftstellerin Marlene Streeruwitz in ihrer Tagebuch-Fiktion "So ist die Welt geworden", die sie auf ihrer Website Episode um Episode ergänzt: "Der Tag war eine Fläche. Ohne Richtungen." Ihr fortlaufender "Covid19 Roman" erzählt in der dritten Person von einer der Autorin ähnelnden Betty, die sich im von ihrem Bundeskanzler Kurz verfügten Hausarrest inwendig vervielfältigt. Eine gespenstergleiche Fiorentina, ein Edwin, eine Irma tauchen auf: "Was sollte sie sonst tun, als auf die psychotische Situation dieses lockdown selber psychotisch zu reagieren."

Die Einsicht in die eigene Privilegien dringt von ferner denn je in die Abgeschiedenheit vor

Eine ähnliche Taktik hat der Feuilletonist Arno Widmann, der jetzt schon ein Buch mit "Szenen aus der frühen Corona-Periode" veröffentlicht: Er legt sich "aufs Sofa und denkt sich Geschichten aus". Die handeln von ziemlich realistischen Leuten, älteren Berlinern, Lisa, Thomas, Silvia, Inge und so weiter, die ihre Theorien und Vorstellungen der neuen Lage ausbreiten, zunehmend solipsistisch: "Achim nimmt die Quarantäne als Exerzitium. (...) Er liest viel, verwandelt das Gelesene in Vorträge, die er sich selbst hält."

Die Erkenntnis, dass es sich da um eine Luxusquarantäne handelt und, obwohl die ganze Welt angeblich vom Gleichen bedroht ist, andere weit schwerer getroffen sind, dringt von ferner denn je in die individuelle Abgeschiedenheit vor.

Das erste belletristische Buch zur Corona-Pandemie, das rasch verlegt wurde, stammte von dem italienischen Autor Paolo Giordano. Es zeigt, dass Beschleunigung der Außenwelt und Verlangsamung der Innenwelt das Erzählen vor strukturelle Probleme stellen: Man liest Giordanos Aufzeichnungen aus Rom, die am 29. Februar beginnen und bis Anfang März gehen und fragt sich, an wen sie gerichtet sein sollen: "In Zeiten der Ansteckung" ist etwas für Leser von vorgestern und übermorgen. Giordanos Rechenexempel und Thesen über globale Ökologie geben treuherzig wieder, was jeder Einzelne seit Wochen im Kopf umwälzt. Ein origineller Gedanke findet sich aber: Das Nachrichtenlesen ist für Giordano nicht mehr wie für Rainald Goetz eine Art in der Gegenwart zu sein, sondern medizinische Prophylaxe: "Je besser informiert ein Suszeptibler ist - über Zahlen, Orte, die Konzentration von Patienten in Krankenhäusern -, umso besser wird er sein Verhalten der Lage anpassen."

Die Wirkung der Corona-Literatur indes wird sich, um im Bild zu bleiben, in der Nachsorge einstellen: Wenn sich aus all den Tagebucheinträgen, Essays, Mitschriften die Geschichte der Gegenwart zusammensetzt.

Paolo Giordano: In Zeiten der Ansteckung. Wie die Corona-Pandemie unser Leben verändert. Aus dem Italienischen von Barbara Kleiner. Rowohlt, Hamburg 2020. 80 Seiten, 8 Euro (zunächst als E-B ook).

Marlene Streeruwitz: So ist die Welt geworden. Der Covid19 Roman. Wird unter www.marlenestreeruwitz.at fortgesetzt.

Arno Widmann: Szenen aus der frühen Corona-Periode. Edition FotoTapeta, Berlin 2020. 70 Seiten, 7,50 Euro (zunächst als E-Book).

© SZ vom 16.04.2020 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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