Buchpreis:„Die Möglichkeit von Glück“: Gesichter der Nachwendekinder

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Eine Lesebrille liegt auf einem geöffneten Papierbuch. (Foto: Monika Skolimowska/dpa/Illustration)

Wie tickt der Osten Deutschlands? Viele Bücher füllt diese Frage. Anne Rabe gelingt mit ihrem Roman über die jüngste DDR-Generation eine der erstaunlichsten Annäherungen. Ganz ohne Nostalgie.

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Berlin (dpa) - Es scheint, als habe Anne Rabe seit Jahrzehnten ihren Text im Kopf tausendmal neu gewendet. Als habe sie Anlauf gebraucht, diese Familiengeschichte aus DDR und Nachwendezeit aufzuschreiben, zugleich die Auswirkungen einer Diktatur zu zeichnen und damit eine Idee zu geben von diesem Land im Osten Deutschlands, der einst ein anderer Staat war.

Rabes Roman „Die Möglichkeit von Glück“ war eine der Überraschungen des vergangenen Buchsommers und gehört nun zu den sechs Finalisten für den Deutschen Buchpreis, der am Montag verliehen wird.

Den Ausschlag für den Roman geben der in Wismar geborenen Essayistin und Dramatikerin die Landtagswahlen 2019 in drei ostdeutschen Bundesländern. Die rechtsradikale AfD wird damals in Sachsen, Thüringen und Brandenburg zweitstärkste Kraft. Warum diese Erfolge? Rabe treibt die Suche nach Erklärungen um. „Das liegt an den autoritären Strukturen der DDR“, sagt die Autorin einmal im Interview mit dem Jugendmagazin „Fluter“. Rechte Gesinnungen im Osten stünden „in einer nationalistischen Tradition, die nicht aufgearbeitet wurde“. Ursprünglich sollte der Roman „Kaltes Land“ heißen.

Stine, die Ich-Erzählerin in „Die Möglichkeit von Glück“ und Rabes Alter ego, ist wie die Autorin drei Jahre alt, als die Mauer fällt. Sie wächst an der ostdeutschen Ostsee auf. Nach der Wende haben die Nachwehen des sozialistischen Staates weiter Einfluss.

Mit Gewalt aufgewachsen

Der autoritären Erziehung ihrer Eltern sind Stine und der jüngere Bruder Tim ausgeliefert. Wenn der Spinat beim Essen auf das Kleid tropft, zack, fängt sich das Mädchen eine Schelle vom Vater. Die Mutter, selbst Erzieherin, schlägt ein andermal so lange auf Stine ein, „bis sie nicht mehr konnte“. Daneben gibt es aber genauso Familienfeste und entspannte Strandtage. „So von außen sieht es schön aus“, sagt Stine, „aber wenn ich einmal hineintrete, entfaltet sich vor mir ein düsteres Labyrinth. Es hat keinen Ausgang“.

Die Elterngeneration der Nachwendekinder ist geprägt von der Massenarbeitlosigkeit der 1990er, von einem völligen Umsturz des bisher bekannten Lebens. Und diese Beschädigungen werden auf die Kinder übertragen. Hier verortet Rabe unter anderem die Gewalt der sogenannten „Baseballschlägerjahre“, in denen Jugendliche in Springerstiefeln Jagd auf Ausländer und Andersdenkende machen.

Ihr klarer, kantiger Erzählstil erlaubt der Autorin auch essayistische Passagen über die DDR: Jugendwerkhöfe, Stasi-Akten oder die verfehlte Aufarbeitung der Nazi-Diktatur. Als Gegenschnitt dazu setzt sie Stines Familiengeschichte. Damit gelingt Rabe eine soziologisch nüchterne Annäherung an eine traumatisierte Generation.

Mit ähnlich schonungslosen Blicken auf den Rechtsruck in der Gesellschaft haben etwa in Frankreich schon Didier Eribon („Rückkehr nach Reims“) oder Édouard Louis („Das Ende von Eddy“) große Romanerfolge gefeiert. Ähnlich wie in deren Büchern wird sich auch Stine, dann selbst Mutter, von der Vorgängergeneration emanzipieren.

© dpa-infocom, dpa:231012-99-536703/3

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