Endlich. Es ist wahnsinnig befriedigend, dass Lisa Krusche für ihren Roman "Unsere anarchistischen Herzen" die Heldinnen Charles und Gwen erschaffen hat. Solche Mädchenfiguren sind rar bislang. Wolfgang Herrndorf hatte mit Isa in "Bilder deiner großen Liebe" (2014) eine ähnliche Protagonistin geschaffen: schnell und phantasievoll, mit den Jungs unterwegs, aber immer eins schlauer, immer eins besser als sie. An jungen Frauen mit Gefühlen mangelt es nicht in der deutschen Gegenwartsliteratur, aber vielleicht an solchen, die auch gern mal anderen aufs Maul geben.
Es gibt Ausnahmen. Fatma Aydemirs "Ellbogen" (2017) war ein Buch auch über weibliche Wut, die Studentinnen, die Mithu Sanyal in "Identtiti" (2021) auftreten lässt, sind auch nicht durch übermäßige Verdruckstheit gekennzeichnet. Hier kommen also die Neuzugänge für den squad. Charles und Gwen sind zwei struppige Mädchen, Teenager auf dem Sprung, die so gerade eben noch nicht in der Lage sind, aus ihren kaputten Elternhäusern auszuziehen.
Die Kaputtheit des Elternhauses entspringt im Fall von Charles den Neurosen einer heruntergekommenen Kreativklasse, die ihre Jugendjahre in den 1980er Jahren damit verbrachte, den schon zweiten Aufguss hippiesker Selbstverwirklichung zu gurgeln. Übrig geblieben ist aber nur ein saures Aufstoßen. Der Roman beginnt damit, dass Charles' Vater, ein Maler, nackt durch Berlin rast, vorgeblich aus Protest gegen den Zustand des Kunstbetriebs, der ihn bloß verkennt - tatsächlich scheitert er am Kunstmarkt, dessen Kapitallogiken er nicht erfüllen kann. Seine Tochter hält sich nicht mehr damit auf, am Kapitalismus oder an anderen -ismen zu verzweifeln, sie handelt nur noch. Sie fängt ihren Erzeuger ein, verfrachtet ihn in ein Uber, ab nach Hause.
In seiner menschlichen Form aus gut durchblutetem Gewebe ist so ein Herz schon perfekt
Dieses Zuhause in Berlin wird nur wenige Seiten später verloren gehen, die Familie zieht in ein Hausprojekt im Umland von Hildesheim, dort wohnen neben einer mittelalten Profi-Gamerin noch ein leicht aufgesexter Koch ohne Job und eine Erbin, deren Hauptbeschäftigung im Sonnenbaden besteht. Sie alle wollten eigentlich etwas anderes mit ihren Leben anfangen. Die große Eigentlichkeit, in der diese Erwachsenen leben, ist eine einzige Enttäuschung. Wenn auch nicht für Charles, sie immunisiert sich durch Einsicht: "Wenn ich meine Eltern sehe, sehe ich, was es heißt, wenn man an dieses Alles geglaubt hat und dann kapiert: Nix is."
Nur ein paar Kilometer weiter steht die prächtige Villa von Gwens Eltern, Mutter Hausfrau mit Essstörung, Vater Geschäftsmann mit Betätigungsgebiet Thailand. Jedes Sonntagsfrühstück läuft mit der vorbildlichen Herzenskälte derer ab, deren Hauptinteresse die Reproduktion sozialer Klasse ist. Gwen gehört nicht dazu, aber statt mit gepanzerter Faust in diese Ordnung reinzuschlagen, die sie hervorgebracht hat und immer noch erhält, prügelt Gwen sich mit Jungs ihres Alters. Oder sie nimmt etwas ältere Typen aus, die sie auf Tinder aufgabelt, und denen sie beim Sex ihren verhauenen Körper zur Verfügung stellt. Während sie sich damit ihre Abgeklärtheit beweist, wird ihr durch die Begegnung mit Charles klar, dass ein anarchistisches Herz nicht von außen mit Teflon beschichtet sein muss, sondern dass es in seiner ursprünglichen, menschlichen Ausgabeform aus Muskelfaser und gut durchblutetem Gewebe schon perfekt ist.
Charles und Gwen lernen sich im Kiosk von Sinan kennen, einem Hildesheimer Philosophiestudenten mit Hauptberuf Süßigkeitenverkäufer. Die Freundschaft der beiden Mädchen erweist sich als die Geschichte der eigentlichen großen Liebe einer dann doch recht süßen Jugendzeit. Ein Zuckerschock ausgelöst durch Selbstbespiegelung in einer anderen, herrlicher Narzissmus, heiliger Narzissmus, unbändige Leidenschaft: "und was übrigblieb, waren unsere körper in der endlosen gegenwart". Auf die Jungs wird ab diesem Zeitpunkt bestenfalls noch ein müder Fick gegeben.
Literarische Sprache, die gegenwärtig klingen will, scheitert dann, wenn sie protokolliert
"Unsere anarchistischen Herzen" erzählt immer abwechselnd aus der Perspektive von Charles und Gwen, immer im Präsens, manchmal in langen Dialogen, manchmal in Sätzen ohne Punkt und Komma, Prosagedichten eigenen Rechts: "wenn die Resonanzräume zu wyld werden muss man sich von innen sanieren". Einer der größten Verdienste des Romans ist es vermutlich, dass er am Soundarchiv einer Gegenwart arbeitet, die Charles und Gwen mehr beschwören als erleben. Denn tatsächlich driften die beiden immer wieder in ihre eigenen Gedankenwelten ab. Im Fall von Charles werden diese Reservate von Tieren bevölkert, mit denen sie spricht wie Kleinkinder mit Übergangsobjekten. Bei Gwen geht es um die seelischen Deformationen ihrer erbärmlichen Tinderdates, fiese Eltern oder deren grabbelnden Ü50-Freunde. All das wird in Chats mitgeteilt, deren sprachliche Wiedergabe in Literatur oft misslingt. Lisa Krusche hat sie mit leichter Hand hingetupft. Wer hätte das gedacht: Es gibt jetzt WhatsApp-Impressionismus. Funktioniert so das Hier-sein, Jetzt-sein?
Ja, aber dieser Impressionismus muss ausgedacht sein. Literarische Sprache, die besonders gegenwärtig klingen will, scheitert dann, wenn sie vor allem protokolliert, wie Leute sprechen. Sie gelingt, wenn sie diese Alltagskommunikation so artifiziell gestaltet, dass eine Restunsicherheit bleibt, ob das denn so hinkommt. Sagen Teenager jetzt: "Ich will nicht, dass Zuckerberg in meinem Dopaminhaushalt rumpfuscht"?
Vielleicht weiß Lisa Krusche das auch nicht so genau, sie ist ja kein Teenager mehr, sondern 1990 in Hildesheim geboren und Trägerin prestigeträchtiger Preise wie des Deutschlandfunk-Preises, den sie im vergangenen Jahr im Wettbewerb um den Bachmannpreis gewonnen hat. Was sie hier schafft, ist aber die überzeugende Fiktion einer Sprache, die durch die 400 Seiten eines Romans trägt, in dem zwei Stimmen sich abwechseln, und doch mit einer sprechen.
Die Kritik gefällt sich oft darin, eine solche Stimme als die der Jugend entdecken oder kritisieren zu dürfen, und das hat auch Lisa Krusche selbst beobachtet. Auf Instagram konnte man sehen, wie sie mit dem Handy ihren Computer abgefilmt hatte, auf dem die Literatursendung "Lesenswert" des SWR lief. Darin klaubte Denis Scheck gerade seiner Meinung nach verhaltensauffällige Wörter aus ihrem Roman. Krusche ließ Schriftbänder über den Ausschnitt laufen, die Distanz und Stolz zugleich zum Ausdruck brachten. Diese Form der Selbstbeobachtung und des Kommentars zur Kritik des eigenen Buches spiegelt wiederum die Asymmetrie der Fernsehsendung: Autorinnen und Autoren sind dabei als Publikum normalerweise zum Schweigen verdammt, dafür können sich die Schecks dieser Welt nicht dagegen wehren, wenn auf Instagram zurückgetextet wird.
Wer sich für die literarische Gegenwart interessiert, ist aber nicht schlecht beraten, da zumindest mal reinzugucken. Die visuelle und ikonische Kommunikation mit Fotos und Emojis, die Referenzsysteme, die durch Vernetzung von Userinnen und Usern entstehen, sind nicht nur stilbildend für die Form eines Roman wie "Unsere anarchistischen Herzen". Eine Fixierung aufs Visuelle ist auch im Erleben der Figuren entscheidend. Charles redet immer wieder von Hilma af Klint oder anderen Malerinnen, ihre Beschreibung des pittoresk vermüllten Gartens, in dem nun auf Wunsch ihrer verkrachten Eltern ein Teil ihres Lebens spielt, klingt nach schönster Landschaftsmalerei. Diese Perspektive wiederholt sich bei Gwen: "Mo macht es mir mit dem Mund, ich sehe ganz schön aus dabei" schreibt sie an Charles. Was mit ihrem Körper passiert, ist immer auch schon bildliche Repräsentation des Geschehens.
Aber warum reicht es dann nicht aus, das auf Instagram zu belassen, warum muss diese bildreiche, emotional komplexe, dabei aber nicht sehr plotreiche Geschichte ausgerechnet im Medium der Literatur stattfinden? Die pathetische Antwort lautet, dass wer von der Kunst alles will, Text nicht zugunsten von Bild aufgeben darf. Konkret bedeutet das im Fall von Krusches Roman, dass sein Text auf andere Art und Weise Lücken lässt, als das Fotos und Bilder tun: Sätze, die gelegentlich ohne Subjekt aber mit starken Prädikaten auskommen, die auf Interpunktion und Adjektive verzichten, bieten Leerstellen an, in die sich Leserinnen und Leser selbst einpflegen können, wie sie wollen. Sie können ihre eigenen Ichs in die Geschichte einbauen, sofern es sich dabei um solche handelt, die anders als die Figuren im Roman noch Bücher lesen, weil sie nicht zu beschäftigt damit sind, zu leben.