ARD-Korrespondenten-Reihe:Vor der roten Ledercouch

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Die Russlandfolge der WDR-Reihe "Liebe, Sex, Tabu - weltweit": Heiraten in Weiß, dieser Tradition folgen viele in Russland. Aber Aufklärungsunterricht an den Schulen gibt es nicht. (Foto: WDR/Shutterstock/WDR)

Die ARD-Reihe "Liebe, Sex, Tabu - weltweit" zeigt mit einzigartigen Geschichten aus Mexiko, Israel oder China bestes Korrespondenten-Kino.

Von Marlene Knobloch

Über Sex im deutschen Fernsehen zu reden, ist ähnlich beständig und ein solider Quotengarant wie Werbung gegen Blähungen. In Podcasts, Dokus, Serien begegnet man fast täglich verborgenen und offensichtlichen erotischen Wünschen, bespiegelt Praktiken, Trends, Toys, und erst diesen Freitag prämierte im WDR ein Format namens Ohjaaa! Der Sextalk mit dem subtilen Untertitel Gespräche über Sex und handfeste Tipps. Umso erstaunlicher, dass es der neuen Korrespondenten-Reihe der ARD Liebe, Sex, Tabu - weltweit gelingt, aus der schön-schnöden Schamlosigkeit herauszuragen. Die Kurzfilme aus Russland, China, Mexiko, Israel und den Niederlanden liefern mit einzigartigen Protagonisten und überraschenden Geschichten über Sex und Liebe bestes Korrespondenten-Kino.

In einem Hotelzimmer in Mexiko-Stadt steht ein muskulöser Mann vor einer roten, vertieften Ledercouch. Die habe den optimalen Winkel - für das Becken. Neben ihm lächelt seine Begleiterin. Das junge Paar hat ein Zimmer in einem sogenannten Liebeshotel gebucht. Eine populäre Institution in Mexiko, die es jungen Menschen ermöglicht, miteinander zu schlafen. Sex zu Hause geht nämlich oft nicht, zu konservativ, zu katholisch, zu viele wachende Mütter mit Ohren wie Rottweiler. Das Paar im Liebeshotel präsentiert die verglaste Dusche, die man vom Bett aus sieht, den Whirlpool, die Spielzeuge - bis der Mann sagt: "So. Wir haben jetzt Spaß!" Dann ziehen die zwei die Tür vor der Kameralinse zu. So nah kommt Korrespondentin Xenia Böttcher ihren Protagonisten in der fantastischen Mexiko-Folge. Und trotz aller Intimität - sie schafft es, die Menschen nie bloßzustellen.

Mit derselben Behutsamkeit begleitet der Film das Treffen von fünf Frauen aus vier Generationen. Es ist eine Szene, in der man als Zuschauer beobachten kann, wie die Journalistinnen etwas in den Menschen auslösen, die sie porträtieren. Etwa wenn die studierte Juristin Nancy Ortiz, die sich ihre sexuelle Freiheit und Emanzipation hart erkämpfte, erzählt, dass ihre Mutter wütend wurde, als sie zum ersten Mal ihre Periode bekam. Als die Mutter wenig später nach einer Antwort sucht, schlägt sie die Augen zur Decke und sagt nur: "Ich weiß nicht, warum ich so reagiert habe." Oder wenn die Tante von der Affäre ihres Mannes erzählt, der neben dem "großen Haus" eben noch ein "kleines Haus" gegründet hat. So nennt man das in Mexiko, wenn Männer neben der Ehefrau noch andere Partnerschaften pflegen. Und wenn am Ende des Abends Großmutter, Mutter, Schwester, Nancy und ihre Tochter am Tisch sitzen, es still wird und zwei von ihnen weinen. Man beobachtet, wie die Frauen in ihren eigenen Antworten den Schmerz erkennen, den sie sich teils gegenseitig zugefügt haben.

Es wäre ein Leichtes, System gegen Tabu auszuspielen. Aber die Dokumentation urteilt nicht. Sie versucht, zu verstehen

Dabei umgeht die Doku-Reihe die Gefahr, Frauen ausschließlich als Opfer zu inszenieren. Auch die Männer leiden, in Mexiko gibt es Macho-Therapien, sie sprechen über den Druck, immer liefern, immer der starke, potente Mann sein zu müssen. Ein Vater streitet mit seinem Sohn, welche Generation schuld ist am Chauvinismus im Land. In China sitzt ein Mann auf weißen Bettlaken und weint um die erloschene Lust seiner Ehefrau. Zwischen Tränen, Sexspielzeugen und Heiratsmittlern streuen die Macher die richtige Dosis Zahlen. Etwa, dass in Mexiko jährlich 2000 Frauen ermordet werden. Dass die Geburtenrate von orthodoxen Frauen in Israel bei 6,7 Kindern liegt, der Durchschnitt der Gesamtbevölkerung bei 3,1. Dass ein Blowjob, der häufigste Service im Rotlichtviertel in Amsterdam, im Schnitt sieben Minuten dauert.

Es wäre ein Leichtes, System gegen Tabu auszuspielen, Tradition gegen Moderne, Unterdrückung gegen Freiheit. Aber die Dokumentation urteilt nicht. Sie versucht zu verstehen. Sie zeigt etwa eine aufgeregte orthodoxe Jüdin beim Perücken-Shopping kurz vor ihrer Hochzeit. Denn im orthodoxen Judentum müssen Frauen ihre Haare nach der Hochzeit bedecken, eine Tradition, die die Protagonistinnen in der Dokumentation wertschätzen. Die Filme graben nicht mit westlich-liberaler Moralschaufel nach Rissen und Schatten - weder bei der glücklichen vierzehnköpfigen Großfamilie in Jerusalem, die auf Gottes Wunsch wächst oder nicht, noch bei einem homosexuellen Chinesen, der sich in die Gedankenwelt seiner konservativen Mutter denkt.

Die verantwortliche WDR-Redakteurin Nicole Ripperda sagte, die Korrespondenten sollten mit der Reihe sichtbarer werden, auch in der Mediathek. Eine Nachricht, die Hoffnung macht, denn die Beiträge erfüllen einen wichtigen Auftrag von Auslandsreportern: Sie faszinieren für das Fremde. Liebe und Sex, so viel ist sicher, sind kompliziert genug für noch einige Filme und Länder.

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