Liao Yiwus Dokumentarroman "Wuhan":Vor unsichtbaren Zeugen

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Chiffre für eine unsichtbare, schicksalhafte Bedrohung: Wuhan während des Lockdowns im Februar 2020. (Foto: Stringer/Getty Images)

Für die Helden des Alltags, die das Regime lieber vergessen will: Liao Yiwus beunruhigender Dokumentarroman über Wuhan, die Elf-Millionen-Stadt, die als Ursprungsort der Corona-Pandemie gilt.

Von Tilman Spengler

Der Ursprung jener Pest, die im frühen 14. Jahrhundert ganz Europa als "der schwarze Tod" heimsuchte, soviel scheint mittlerweile virologisch gesichert, darf mit Nagetieren in Verbindung gebracht werden, die vor sieben Jahrhunderten in der heutigen chinesischen Provinzhauptstadt Wuhan miteinander kopulierten. Eine der vielen poetischen Umschreibungen für Wuhan lautet: "Stadt der Seen", eine andere: "Chinas Chicago". Schon das zeigt eine kühne Bandbreite von Projektionen, die aber jener Metropole durchaus gerecht wird, die der gewaltige Strom Yangzi durchschneidet. Der Name der Stadt hatte schon immer einen besonderen Klang, denn Wuhan war das Epizentrum vieler Beben. Hier begann 1911 die Revolution, die dem chinesischen Kaiserreich ein Ende bereitete, hier stieg Mao Zedong 1966 in die Fluten des Yangzi, um mit einer symbolischen Wiedergeburt den Beginn der Kulturrevolution anzukündigen. Und von hier machte sich schließlich seit dem Jahresende 2019 das Coronavirus auf seinen Weg um den Globus. Nicht nur im meteorologischen Sinn gilt Wuhan als ein "Backofen" Chinas.

Der vielfach ausgezeichnete Romancier Liao Yiwu - 2012 erhielt er etwa den Friedenspreis des Deutschen Buchhandels - hat in seinem neuen Werk die Stadt zum zentralen Schauplatz seiner Erzählung gemacht und den Ausbruch der Seuche zum alles gestaltenden Faktor. Der Titel des chinesischen Originals "Wenn das Wuhan-Virus kommt", erinnert daher vielleicht nicht ungewollt an einen schwarzgalligen Film aus den Sechzigern, bei dem Roman Polanski die Regie führte. Den dunklen Seiten jeder und ganz besonders der chinesischen Gesellschaft gehört bekanntlich Liao Yiwus bevorzugte Anteilnahme.

Der Messengerdienst Wechat teilt alle Informationen mit dem chinesischen Staatsapparat

Der grobe Handlungsrahmen lässt sich in wenigen Sätzen nacherzählen: Es gibt zwei männliche Helden, der eine arbeitet als mutiger Enthüllungsjournalist in Wuhan und versucht, durch einen Besuch im Geheimlabor P4 der wahren Geschichte des Ausbruchs dieser Seuche auf die Spur zu kommen. Der zweite Held verbringt gerade als chinesischer Auslandsstipendiat ein Jahr in Berlin und will zum chinesischen Neujahr Frau und Tochter in seiner Heimatstadt Wuhan besuchen. Dieser Held ist kein Dissident, doch sein Nachname gibt auch Uneingeweihten bereits einen kleinen Fingerzeig. Er heißt Ai, wie ein berühmter bildender Künstler, der viele Jahre in Berlin wirkte.

Dem Enthüllungsjournalisten widerfährt, was das voraussehbare Schicksal in der Volksrepublik unter dem Staatspräsidenten Xi Jinping für Enthüllungsjournalisten bereithält. Und auch Herr Ai wird in diesem Frühling kein glückliches Neujahrsfest mit seiner Familie feiern. Soviel darf an dieser Stelle im Voraus verraten werden.

Die Opfer bleiben die Opfer, so wie die Herrschenden die Herrschenden bleiben: Liao Yiwu 2019. (Foto: Lionel Bonaventure/AFP)

Die Geschichte schaltet in hohem Tempo zwischen Berlin, wo Herr Ai einem chinesischen Landsmann von den mühsamen Etappen seiner Reise berichtet, und Wuhan, dem Wohnsitz der Familie - und dem Einsatzort des investigativen Journalisten. Für die literarische Vernetzung dieser weit auseinanderliegenden Impulse benutzt Liao Yiwu einen Zauberstab der zeitgenössischen Kommunikation: den Dienstleister Wechat.

Auf Chinesisch heißt dieser Dienstleister Wei Xin, was wörtlich übersetzt: "Winzige Botschaft" bedeutet. Eine fast schon poetische Verniedlichung der Übertragung von Botschaften über alles, was für eine Person gerade der Fall ist oder eben auch nicht. Es reicht vom klassischen Gespräch zwischen Personen bis zur Übertragung von Bildern, zum Bestellen und Bezahlen von Gütern und Dienstleistungen, Horoskope werden erstellt, Ehen angebahnt, Autos und Krankenhausbetten bereitgestellt. Kurzum, hier erfüllen sich digitale Träume in den Niederungen des Analogen.

Die Techniken der Kommunikation erlauben eine neue, eine andere Art von Widerstand

Vor Zeugen, versteht sich. Die Firma Wechat teilt alle Informationen, alle Wünsche und Hoffnungen, die der Dienst vermittelt, mit den zuständigen Organen des chinesischen Staatsapparats. Oder - wie im Roman - auch mit einem Autor, der als Erfinder genauso allwissend ist.

Liao Yiwu, das Opfer staatlicher Willkür, macht sich so auf listige Weise die großen Ohren und die scharfen Linsen der totalitären Macht zunutze. Und er zeigt darüber hinaus, dass er mit diesen Informationen künstlerisch, also berechnend spielerisch umgehen kann. Liaos früheres künstlerisches Werk, die Berichte von unerbittlicher Verfolgung und Demütigung, von seelischem und körperlichem Leid in chinesischen Straflagern trugen formal den Stempel des unerbittlichen Zeugnisses: So und nicht anders hat sich die qualvolle Geschichte zugetragen, genau so sieht die Fratze der Herrschaft aus! Jeder Satz von mir ist mit Schmerz gemeißelt! Eine finstere Welt, voller Ausrufezeichen.

Liao Yiwu: Wuhan. Dokumentarroman. Aus dem Chinesischen von Brigitte Hohenrieder und Hans Peter Hoffman. S. Fischer, Frankfurt 2021. 352 Seiten. (Foto: N/A)

Die Opfer bleiben im neuen Roman die Opfer, so wie die Herrschenden die Herrschenden bleiben. Doch die Techniken der Kommunikation erlauben eine neue, eine andere Art von Widerstand. Klar, die Regierung hat eine massive "Firewall" hochgezogen, eine Schutzmauer, die dem Volk nur jene "winzigen Botschaften" zulässt, die ihr genehm sind. Aber selbst diese Mauer kann überwunden werden. Gerade in China tut sich jede Zensur schwer, es mit der Virtuosität von Sprache und Schrift aufzunehmen. Für jede Kombination von Zeichen, die offiziell aus dem Verkehr gezogen wird, kann aus dem reichen Fundus der Schrift ein Ersatz gefunden werden, gegen die Macht der Fantasie hilft oft auch der mächtigste Algorithmus nicht.

Das Internet ist in China genauso wenig ein Hort der Sprachkultur wie bei uns

Liao Yiwu benutzt Chats, die persönlichen und auch die offiziellen Kurznachrichten, fulminant als Stilmittel. So entsteht ein wildbuntes Tapetenmuster von Klein- und Kleinsterzählungen, hier wird ein Gerücht verbreitet, dort von einer Grausamkeit berichtet, dazwischen gestreut immer wieder die Verlautbarungen aus den Waffeleisen der Politsprache. Beim Lesen löst das unterschiedliches Behagen aus, das Internet ist in China genauso wenig ein Hort der Sprachkultur wie bei uns. Manchmal wird leider auch der Autor als Erzähler ein Opfer der Geschwindigkeit, lässt "Knie schlottern", "auf Granit beißen", "Schrecken gehörig in die Knochen" fahren und was dergleichen Sorglosigkeiten der flinken sprachlichen Bildfindung noch anbieten. Da mir die Übersetzer, Brigitte Höhenrieder und Hans Peter Hoffmann, durchgängig den Eindruck vermittelten, als blickte ich beim Lesen in das chinesische Original, lösten die Beispiele eine unnötige Irritation aus.

Der Autor hat seine neue Schöpfung einen "Dokumentarroman" genannt, mithin einem Genre zugeordnet, das das Fiktive von Literatur mit der Authentizität belegbarer Fakten, realer Personen oder gesicherter Verläufe abgleicht.

Das ist schon deshalb eine Notwendigkeit, weil der Roman auch für ein Land geschrieben wurde, in dem Literatur sehr genau und vornehmlich unter forensischen Gesichtspunkten gelesen wird. Und so kann es geschehen, dass im Text Figuren des Zeitgeschehens unter ihrem wahren Namen auftreten, unter ihrem Pseudonym oder unter einem Schleier, den der Autor allein für sie geschaffen hat. Den einen oder anderen Leser, der die chinesische Innenpolitik nicht ständig verfolgt, mag das verstören, doch recht besehen verfolgt Liao Yiwu hier auch ein ganz anderes Ziel: Er schafft Erinnerungstafeln für Helden des Alltags, wie eben jenen Arzt, der damals in Wuhan als erster vom Ausbruch des Virus berichtete. Eine totalitäre Geschichtsschreibung wird bald für das Löschen dieser Erinnerungen sorgen.

Im Gedächtnis bewahren werden dagegen alle Bewohner von Wuhan, wie die Seuche sie unter ihren Landsleuten stigmatisierte, wie der Name der Stadt zur Chiffre für eine unsichtbare, schicksalhafte Bedrohung wurde. Ob in diesem Aspekt die Erzählung von Liao Yiwu mehr durch das Romanhafte als das Dokumentarische bestimmt wurde, lässt sich von Außenstehenden schwer entscheiden, es ist vielleicht auch unerheblich, weil schon der Hinweis auf das Mögliche, nämlich die Gefahr eines durch Gerüchte angezettelten Notstands mit bürgerkriegsähnlichen Zuständen, hinlänglichen Schrecken verbreitet. Dagegen wirkte das vielbeachtete "Tagebuch aus einer gesperrten Stadt", das uns vor fast zwei Jahren die Schriftstellerin Fang Fang aus Wuhan hinterließ, schon eher beruhigend. Naturgemäß durfte auch dieses Werk nicht an die chinesische Öffentlichkeit.

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