Er ist einer der wichtigen, regimekritischen Autoren Chinas, auch wenn er sich selbst nicht als politischen Aktivisten, sondern als Dichter sieht. Liao Yiwu, 1958 geboren, gibt den Benachteiligten und Erniedrigten Chinas ihre Stimme. Er schrieb 1989 ein Gedicht über die Niederschlagung der Demokratiebewegung, wofür er vier Jahre im Gefängnis saß. Das Verbot seines literarischen Gefängnisberichtes, der jetzt in Deutschland publiziert wird, umging er durch die Flucht aus der Heimat.
Nach dem 4. Juni ein Gedicht zu schreiben, ist barbarisch, möchte man ein bekanntes Diktum Adornos variieren, das er nach Auschwitz formulierte. Liao Yiwu hat am Tag vor dem Massaker am Tiananmen 1989 ein Gedicht geschrieben, das auf Video in ganz China verbreitet und für ihn das Entréebillet in den chinesischen Gulag wurde. Sein Leben als dichtender Avantgarde-Provinzbohèmien in Sichuan fand ein jähes Ende, und er wurde in eine Höllenfahrt der Verfolgung und Verdächtigung hineingerissen, die erst jetzt nach über zwanzig Jahren vorläufig endete, als er nach Deutschland ausreisen konnte. Liao Yiwu hat sich in Berlin von seiner Heimat abgesetzt; am Wochenende hatte er einen umjubelten Auftritt in Tübingen. Ob er aus dem Exil je nach China als freier Mann zurückkehren kann, ist ungewiss.
Sein Gedicht, unter dem Titel "Massaker" berühmt geworden, wollte er gar nicht schreiben. Ein Sinologe hat es "Der Schrei" genannt. So hört es sich auch an. Wer jemals Liao Yiwu ein Gedicht hat vortragen hören, der weiß, dass bei ihm das gesprochene Wort zählt. Es lohnt sich, seine Performances anzusehen, ob bei einer Lesung oder im Internet. Man muss kein Chinesisch verstehen, um zu begreifen, dass es sich hier um einen großen Gesamtkünstler handelt, um einen Lyriker, Musiker, Schauspieler, Chronisten in einer Person.
Aber auch beim Lesen in dem neuen, seinem zweiten auf Deutsch erschienenen Buch "Für ein Lied und hundert Lieder. Ein Zeugenbericht aus chinesischen Gefängnissen", das an diesem Donnerstag herauskommt (Aus dem Chinesischen von Hans Peter Hoffmann, S. Fischer Verlag, Frankfurt am Main, 582 Seiten, 24,95 Euro) - auch beim Lesen dieses Buches wird man spontan von der Gewalt ergriffen, die von dem beigefügten "Massaker" ausgeht, und der Leser wird von einem unwiderstehlichen Erzählstrom mitgerissen, der einen fünfhundert Seiten ebenso atemlos durchleben lässt wie Liao seine Odyssee durch den chinesischen Gulag und das Leben als Ausgestoßener und Verfolgter auf den Straßen Sichuans.
"Massaker" liest sich wie eine Todesfuge auf Chinesisch; es ist der universal verständliche Schrei der gequälten chinesischen Kreatur im Würgegriff des kommunistischen Leviathan. Im Jahr 1989 endete das Short century, ein Jahrhundert der Grausamkeit und zugleich des beispiellosen Anstiegs globalen Wohlstands. Man muss wirklich kein Chinesisch können, um Liaos Literatur zu begreifen, ebenso wie man kein Deutsch können muss, um Celans "Todesfuge" zu verstehen. Aber es hilft ungemein, wenn man sich die Welt vor Augen führt, die diese Aufschreie hervorgebracht hat.
Das kurze zwanzigste Jahrhundert hatte für die Chinesen mit dem 4. Mai 1919 vor dem Tor des Himmlischen Friedens begonnen, Auftakt zu einem säkularen Kampf unterschiedlichster Kräfte. Das traditionelle China verschwand unter der eisernen Faust der Kommunistischen Partei, und ein neues China entstand unter grausamen Qualen und immer wiederkehrenden verheerenden Massenmobilisierungen. Die chinesische Volksbefreiungsarmee, durch deren Eingreifen noch 1978 die selbstzerstörerische Kulturrevolution des Mao Zedong Chinas beendet werden konnte, zerschlug am 4. Juni 1989 alle Hoffnungen auf ein demokratisch regiertes China und zerstörte durch das Massaker auf dem Platz am Tor des Himmlischen Friedens die letzte Legitimation der Kommunistischen Partei.
Im Westen wird oft vergessen, dass diese Unterdrückungsaktion der Anfang vom weltweiten Ende der kommunistischen Parteiherrschaft war, die außer auf Kuba, in Nordkorea und China ihre absolute Macht verlor. Unter dem Druck der Verhältnisse verließen viele Chinesen das Land oder stürzten sich auf Geldverdienen, Sport und Wissenschaft , um dem chinesischen Leben doch noch etwas abzugewinnen. Der Staat versuchte und versucht es mit Brot und Spielen, um nicht als nackte Repressionsgewalt dazustehen. Ein gewaltiger Sicherheitsapparat überwacht bis heute die Chinesen, die voller Lebenshunger sich auf das private Überleben konzentrieren. Aber wehe dem, der von dem Malstrom der Repressionsmaschinerie ergriffen wird! So einer ist Liao Yiwu, ein Held wider Willen, der mit seiner Literatur Zeugnis ablegt.
Nach 1978 kehrte China in die Welt zurück, mit einiger Verzögerung fand auch die chinesische Kulturproduktion ihren Platz auf dem Weltmarkt. In dieser Zeit schien sich für Liao ein Plätzchen zu bieten in der chinesischen Avantgardeliteratur, wenn auch fern der Metropolen Shanghai und Peking. Nicht einmal in den Sichuaner Millionenstädten Chengdu oder Chonching konnte er sich niederlassen, sondern er kam nach Fuling, eine Bergstadt am Yangtze, wo er mit seiner zeichnenden Traumfrau A Xia eine bohèmehafte Randexistenz führte.
Doch eine Idylle war das nicht. Es gibt in China keine Niederlassungsfreiheit, niemand kann einfach dahin gehen, wo er will. Liaos Schwester Feifei, eine angebetete Schauspielerin, musste sich in der hintersten Ecke der Provinz niederlassen. Als sie einmal die elterliche Familie in ihre entlegene Gegend einladen wollte, kam sie bei einem banalen Verkehrsunfall ums Leben. Ein ganz gewöhnliches chinesisches Unglück, wie es zum erbarmungslosen chinesischen Way of Life gehört. Liao warf dies Unglück aus der Bahn; das Leben hatte ihn gelehrt, auf nichts und niemanden zu vertrauen. In der Neuen Rundschau, Heft 4/2010, ist eine Rede von Liao aus dem Jahre 2007 abgedruckt, die er auf Druck der Behörden nicht halten durfte. Sie ist von der gleichen hinreißenden Gewalt wie seine Bücher. Liao nennt seine vier Lehrmeister: Hunger, Schande, Obdachlosigkeit, Gefängnis.
Die konzentrierten acht Seiten dieser ergreifenden Rede sind auf den 500 Seiten von "Für ein Lied und hundert Lieder" nun zu einer großen Erzählung entfaltet. Wir werden vom Autor mitgeschleppt nach Fuling am Oberlauf des Yangtzeflusses, einem Ort fern vom Großstadt-Hype, wir werden Zeugen, wie auch dort der Wunsch nach veränderten Verhältnissen die Massen ergreift und Liao, der gar kein Held werden möchte, "Massaker" schreibt, auf Video aufnimmt, sein lyrisch geformtes "Testament" formuliert, unter Undergroundbedingungen einen Film namens "Requiem" dreht und dann in den rasenden Strudel der Repressionsschluchten gerät. Seine "drei Schluchten" sind das Untersuchungsgefängnis, das Gerichtsgefängnis und das Arbeitslager.
"Liebeslieder aus dem Gulag"
Wer danach noch nicht genug hat, kann am Ende die "Liebeslieder aus dem Gulag" lesen. Wer die Sprache nicht beherrscht, sollte nicht lügen und behaupten, die klassische chinesische Lyrik sei ihm zugänglich. Um aber Liaos Gedichte zu verstehen, braucht man gar nichts zu wissen. Sie wirken unmittelbar, herzzerreißend und niemals sentimental. Ja, es ist möglich, nach dem 4. Juni Gedichte zu schreiben, wenn sie den Schrei der Gequälten artikulieren. Auch Celan musste die "Todesfuge" schreiben, die er als "Todestango" vorgetragen hat, bevor sie von Feuilletonisten und Deutschlehrern sakralisiert wurde - sie ist aus sich heraus geschrieben, nicht um Ruhm zu erwerben, sondern ebenso ein Schrei wie "Massaker".
Die Katastrophe, von der uns Liao Yiwu berichtet, endet nicht mit seiner Entlassung aus dem Knast im Jahre 1994. Sein Buch wurde beschlagnahmt und vernichtet; er musste es noch einmal schreiben. Lakonisch heißt es am Ende des Buches: "Erstes Manuskript 10. Oktober 1995 bis 31. Dezember 1997. Drittes Manuskript 27. November 2000 bis 1. Januar 2001. Sechste Überarbeitung 30. Oktober bis 9. November 2009." Nach der Entlassung aus der Haft ging Liaos Via Dolorosa weiter; auch daraus machte er etwas, was in der Literaturgeschichte seinesgleichen sucht: "Fräulein Hallo und der Bauernkaiser", sein erstes, 2009 in Deutschland erschienenes Buch, das er auf der China-Buchmesse in Frankfurt in jenem Jahr nicht vorstellen durfte (SZ vom 26. September 2009); erst 2010 ließ man ihn, nach lautem Protest aus Deutschland, ausnahmsweise erstmals dorthin ausreisen (SZ vom 23. September 2010).
Alles, was Liao durch einen qualvollen Schreibprozess für sich selbst leistet, tut er auch für andere: Liao stellt die menschliche Würde der Erniedrigten und Beleidigten wieder her. Doch große Kunst wie diese ist nicht versöhnlich, sondern sehr schmerzhaft. Der Leser sollte gewarnt sein.
Große Kunst? Ist das nicht etwas übertrieben? Aber was würde man sagen, wenn man Alexander Solschenizyn, Wassilij Grossman, Ossip Mandelstam und Warlam Schalamow in einer Person träfe? Nicht allein der chinesische Gulag wird dem westlichen Leser hier eindringlich vorgeführt, sondern es geht um die Behauptung der menschlichen Subjektivität gegen ein kannibalistisches Gesellschaftssystem. Der größte Autor des 4. Mai 1919, Lu Xun, hatte die chinesische Gesellschaft als eine menschenfressende charakterisiert; er schrieb zu gleicher Zeit wie Franz Kafka. Wer Kafka gelesen hat, versteht Lu Xun - und umgekehrt. Diesseits aller Exotik erzählt uns Liao Yiwu auch unsere Geschichte des 20. Jahrhunderts, der KZ und Gulag ihren Stempel aufgedrückt haben - nur dass die martialische Unterdrückungsgewalt des chinesischen Staates bis in die unmittelbare Gegenwart reicht.
Am Anfang des Buches steht ein Brief des Schriftstellers Liu Xiaobo an Liao Yiwu, den er 1999 geschrieben hat, als noch niemand daran dachte, Liu würde einmal den Nobelpreis erhalten. Dieser Brief ist kein Marketing-Gag des Verlages, sondern bezeugt die überindividuelle Bedeutung von Liaos Sisyphosarbeit. "Der 4. Juni war für mich der schwärzeste und der blutigste Tag, und all die Tage danach waren weder schwarz noch rot. Wenn Schamlosigkeit eine Farbe hat, dann diese. Womit man nicht fertig wird, damit wird man niemals fertig, selbst wenn wir eines Tages den Unglücklichen Trost spenden können sollten, die für unser Land gestorben sind." Der Westen hat diesem unermüdlichen Kritiker der chinesischen Diktatur Liu Xiabao 2010 den Friedensnobelpreis verliehen. Seitdem ist er wieder in den chinesischen Gulag gewandert, von dem uns Liao das eindrücklichste Bild geliefert hat. Wenn Liao Yiwu dafür mit dem Literaturnobelpreis geehrt würde, träfe es keinen Unwürdigen.
Der Autor lehrte Soziologie an der Universität Hannover und ist unter anderem mit einer Biographie über Theodor W. Adorno (2003) hervorgetreten.