Kunst:100 Jahre Zweisamkeit

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"Die roten Rehe" von Franz Marc - Ein Gemälde, eine fast vergessene Liebesgeschichte und ein Geschenk an die Bayerischen Staatsgemäldesammlungen, die das Bild erst kaum annehmen wollten

Von Oliver Kase

Kurz nach der Jahrhundertwende erregte "ein sehr auffallendes, ungleiches Paar" in Schwabing Aufmerksamkeit - gewiss nicht nur die von Maria Marc, die diese Zeilen schrieb. Diese Beobachtung Marias galt ihrem späteren Mann Franz Marc und seiner damaligen Geliebten Annette Simon. Deren pikante Liaison handelt von der Geld- und Seelennot eines orientierungssuchenden jungen Künstlers und dem Ausbruch einer verheirateten Frau aus den Konventionen einer unglücklichen Ehe. Die Anfänge dieser Beziehung liegen in der Pasinger Villenkolonie, wo die Familien Marc und Simon 1899 als Nachbarn unweit voneinander wohnten. Franz Marcs Bruder Paul war Student des renommierten Sanskritforschers und Indologen Richard Simon. Ausgerechnet in dessen Ehefrau Annette von Simon, geborene von Eckardt (1871-1934), fast neun Jahre älter als Franz Marc und Mutter einer Tochter, verliebte sich der etwa 20-jährige Franz.

Annette Simon war eine mondäne und gebildete Frau, die als Tochter eines Großkonsuls unter anderem in Tunis, Marseille und Stockholm aufgewachsen war. In München hatte sie sich als Malerin und Kunst- und Antiquitätenhändlerin einen Namen gemacht. Insbesondere als Kopistin von mittelalterlichen Miniaturen wurde ihr eine besondere Einfühlungsfähigkeit bescheinigt, die wohl für die Verbindung mit der sensiblen und grüblerischen Künstlerseele Franz Marcs nicht von Nachteil war. Der Höhepunkt ihrer Beziehung zu Marc scheint 1904 erreicht, als Annette dem Künstler ein Atelier und Liebesnest im Hinterhof der Kaulbachstraße 68 mietete und Franz sich vor seinem Bruder Paul und seiner Mutter zu der Beziehung bekennt.

Paul erklärt verständnisvoll, zwischen Marc und Annette "genügend Wesensverwandtschaft" zu sehen, "um manches Unbegreifliche begreiflich zu finden". Die Romanze sollte in der Realität nicht Marcs einzige Verbindung bleiben. Der suchende Künstler lernte 1905 die beiden Malerinnen Marie Schnür und Maria Franck kennen. Es entspann sich ein kompliziertes erotisches Vierecksverhältnis, das bis mindestens 1907 Bestand hatte. Keine der drei Frauen wollte Marc aufgeben, aber der verheirateten Annette wurde immer mehr die edle Rolle der selbstlosen Gefährtin und Lebensfreundin zuteil, unterbrochen bis mindestens 1907 von gelegentlichen leidenschaftlichen Begegnungen. Später verdrängte die dominierende Gestalt von Maria Marc, die bald auch Marcs Nachlassverwalterin wurde, die Figur Annette von Eckhardts zu einer Randfigur der Aufmerksamkeit, obwohl sie seine erste große Liebe und Förderin war. Die spärlichen noch vorhandenen Quellen beinhalten keine gemeinsamen Fotografien von Annette und Franz, nur vereinzelte Briefe sind erhalten.

Im Gegensatz zu den wenigen Quellen erinnert das Gemälde "Rote Rehe II" und seine Provenienz auf eindrückliche Weise an die Verbindung von Annette Simon und Franz Marc. Die ungewöhnliche Geschichte des Gemäldes erzählt von der sehr wechselhaften Wertschätzung des Künstlers Franz Marc durch die Nachwelt. Annette Simon hatte die "Roten Rehe" den Bayerischen Staatsgemäldesammlungen bereits zwei Monate nach Marcs frühem Kriegstod am 4. März 1916 zum Ankauf angeboten. Mit Verzögerung wurde das Gemälde 1917 Teil der Sammlung.

Die "Schenkung eines Ungenannten" verdankt der Freistaat einer Frau

Vor genau 100 Jahren ereignete sich diese überhaupt erste nennenswerte Erwerbung eines expressionistischen Gemäldes durch die Bayerischen Staatsgemäldesammlungen. Zu dieser Zeit waren die Pinakotheken noch durch das lange 19. Jahrhundert und die konservative, auf Genre, Stillleben und Landschaften fokussierte Münchner Malschule geprägt. Auch in den ungleich progressiveren, avantgardistischen öffentlichen Kunstsammlungen Deutschlands war Franz Marc noch nicht vertreten. Lediglich das Kölner Wallraf-Richartz-Museum hatte bereits 1911 die "Blauen Pferde II" angekauft.

Dass die "Roten Rehe II" 1917 deshalb überhaupt von den Bayerischen Staatsgemäldesammlungen angenommen wurden, verdankt sich allein der Großzügigkeit Annette Simons, die nach der Trennung und Scheidung von ihrem Ehemann Richard 1913 wieder ihren Mädchennamen von Eckardt angenommen hatte. Im August 1917 vermerkte Friedrich Dörnhöffer, der damalige Generaldirektor der Pinakotheken, das Gemälde "Rehe, dekoratives Panneau" sei bereits zuvor zum Kauf angeboten worden, man befürworte die Annahme des Gemäldes aber nur, wenn es zum Geschenk gemacht würde. Dörnhöffer hielt Marc einer traditionellen Erwerbung aus dem Ankaufsetat des Ministeriums nicht für würdig. Bei dem Gemälde, so Dörnhöffer, handle es sich um "einen breitstilisierten dekorativen Entwurf aus den späteren Jahren" des gefallenen Franz Marc. Mit den "Roten Rehen" und dem Frühwerk "Aufsteigende Nebel" von 1904 wäre "der Künstler in seiner Heimatstadt gut vertreten." Der beiläufige und pflichtschuldige Kommentar, nur mit der lokalen Bedeutung des Kriegsgefallenen argumentierend, lässt noch keinerlei Sensibilität für die Bedeutung Marcs erkennen.

Was hat Annette von Eckardt bewogen, das Bild so früh aus ihren Händen zu geben? War es doch unter den wenigen Werken, die sie von Marc besaß, zweifellos das bedeutendste Gemälde. Im Gegensatz zu Maria Marc, die die Franz-Marc-Gedächtnis-Ausstellung im September und Oktober 1916 der Münchner Neuen Secession mit zahlreichen Leihgaben unterstützte, entschloss sich Annette, ihre "Roten Rehe II" kurz nach Marcs Tod den Pinakotheken anzubieten. In einem bemerkenswerten Brief schrieb sie an die Witwe Maria Marc am 25. August 1916: "Von der Erwerbung der Rehe durch die Pinakothek hörten Sie von anderer Seite. Mir ist es eine große, stille Freude, das teure Bild so in der Nähe zu haben - aber, als ich heute die schönen Bilder, die Sie für die Ausstellung schickten, sah, war ich auch für Sie beruhigt, denn wenn die Pinakothek ernstlich etwas von Franz haben will, wird diese bescheidene erste Erwerbung sie sicher nicht davon abhalten."

Mit Tusche zeichnete Marc 1904 "Annette am Schreibtisch". (Foto: Germanisches Nationalmuseum Nürnberg)

Auf der über 100 Gemälde zählenden und alle Hauptwerke vereinenden Gedächtnis-Ausstellung 1916 fehlten deshalb die "Roten Rehe II". Am 18. September äußerte sich Annette jedoch äußerst kritisch gegenüber Maria und ihre "total abweichende Lebensanschauung". "Ihnen ist eine Anhäufung von Andenken Bedürfnis, als Ausdruck Ihrer Liebe. Ich dagegen kann alles von ihm hergeben, um Anderen noch in der Schwere dieses Lebens Stehenden damit zu helfen. Waren doch seine Werke nichts anderes als der arme, irdische Ausdruck der Sehnsucht über diese Schwere dieses Lebens hinaus - sind doch auch ihm diese Werke nun nichts mehr, da er ihrer nicht mehr bedarf." Die Kunst Marcs hat für Annette von Eckardt eine religiöse oder sentimentalische Idee der Erlösung aus den Leiden der Existenz zum Ziel. Die Schenkung des Bildes inmitten des Ersten Weltkriegs interpretierte sie als einen Akt ästhetischer Seelsorge für die Gemeinschaft der Schwermütigen. Diese selbstlose Geste kam nicht nur in der Einwilligung in eine Schenkung statt eines Ankaufs zum Ausdruck, sondern auch im Verzicht darauf, fortan namentlich genannt zu werden. Als "Schenkung eines Ungenannten" wurde die Erwerbsnotiz seit 1917 in den Katalogen und Bildbeschriftungen für 100 Jahre geführt und die Identität der Schenkenden damit im Verborgenen gehalten.

Dörnhöffers Missverständnis der "Roten Rehe II" als harmloses Schaustück, als "dekoratives Panneau" kann nach 100 Jahren nur noch Schmunzeln erregen. Seit Jahrzehnten sind Rote Rehe und Blaue Pferde zum Inbegriff von Franz Marcs populärer expressionistischer Tiermalerei geworden. In den "Roten Rehen II" artikuliert sich 1912 in der direktesten und einfachsten Form Marcs tiefe Sehnsucht nach einer neuen Einheit von Mensch und Natur. Sich in die Seele des Tieres zu versenken, war Marcs oberstes Ziel: "Hat es irgendwelchen (...) Sinn, das Reh zu malen, wie es unsrer Netzhaut erscheint? Ich kann ein Bild malen: das Reh. Ich kann aber auch ein Bild malen wollen: 'das Reh fühlt'." In Marcs Tierwelt verkörpern die menschenscheuen, zarten Rehe den Höhepunkt der Projektion von Reinheit und Idealisierung, die nur der empfindsame Künstler auf dem Wege der Einfühlung wahrnimmt. Zur Legendenbildung des Tierflüsterers Marc trug nicht zuletzt bei, dass die kinderlosen Franz und Maria Marc mit "Schlick" und "Hanni" seit Oktober 1913 tatsächlich zwei zahme Rehe als Haustiere hielten, die 1914 an der Rieder Villa ein eigenes Grundstück erhielten.

Die Schenkung der "Roten Rehe II" legte als erste maßgebliche Expressionistenbewegung den Grundstein des "Blauen Reiter" in den Pinakotheken. Das Museum blieb aber zunächst erschreckend untätig in der Präsentation und Würdigung des Gemäldes. Nicht vor 1929 wurde es in der Neuen Staatsgalerie am Königsplatz, den heutigen Antikensammlungen, überhaupt in die Dauerausstellung integriert.

Die entscheidenden Ereignisse, die dem Gemälde und Franz Marc eine größere Öffentlichkeit verliehen, spielten sich aber erst nach der Machtübernahme der Nationalsozialisten 1933 ab. Für das Regime war Franz Marc als Gefallener des Ersten Weltkrieges ein verehrungswürdiger "Kriegsheld". Das Bild eines gütigen, tiefsinnigen, naturliebenden Künstlers sowie eines aufopferungsvollen Soldaten zeichneten zudem seine 1920 veröffentlichten zweibändigen "Briefe, Aufzeichnungen und Aphorismen". In Lexika und Postkarten, sogar in den neuen massenhaft gedruckten Zigarettensammelbildern war das Werk Marcs noch nach 1933 weit verbreitet und genoss größte Popularität. Auf der anderen Seite aber war Marc ein Expressionist - also der Vertreter eines Stils, der von den völkisch-konservativen Kreisen um den "Kampfbund für deutsche Kultur" als Ausdruck eines "Kulturbolschewismus" strikt abgelehnt wurde. Solange der "Expressionismusstreit" schwelte, also die Frage, ob ein "nordischer Expressionismus" als neudeutsche Staatskunst geeignet sei, war Marcs Werk nicht generell gefährdet und fand unter deutschen Museumsdirektoren viele Fürsprecher. Erst die Jahre 1936/37 markierten eine Wasserscheide in der Rezeption Franz Marcs. Die zum 20. Todesjahr des Künstlers in der Kestner-Gesellschaft Hannover und anschließend in der Galerie Nierendorf in Berlin veranstaltete Gedächtnis-Ausstellung wurde am 2. Mai 1936, am Tag der Eröffnung, von der Gestapo geschlossen, aber einige Tage später doch wieder zugänglich gemacht. Noch expliziter war die Ambivalenz in der Feme-Ausstellung "Entartete Kunst" im Münchner Hofgarten, wo Marcs berühmter "Turm der Blauen Pferde" aus dem Kronprinzenpalais in Berlin zunächst präsentiert wurde, dann aber auf Protest des deutschen Offiziersbundes und persönlichen Befehl Adolf Hitlers aus der Ausstellung entfernt werden musste.

Franz Marc im Nationalsozialismus - ein "zweifelsfreier Grenzfall"?

Am 9. Juli 1937, zehn Tage vor der Eröffnung dieser Ausstellung, beschlagnahmte die dafür zuständige Kunst-Kommission in den Bayerischen Staatsgemäldesammlungen 15 Werke, zu denen auch die "Roten Rehe II" zählten. Sie wurden allerdings nicht in der Ausstellung "Entartete Kunst" präsentiert und tauchen erst 1940 wieder bei dem Kunsthändler Bernhard A. Boehmer auf, der mit dem Verkauf der als "entartet" beschlagnahmten Kunstwerke ins Ausland beauftragt worden war. Zu dieser Zeit traf die "Kommission zur Verwertung der Produkte entarteter Kunst" eine bemerkenswerte Entscheidung. Die Einschätzung von Franz Marc als "entarteter" Künstler wurde teilweise revidiert: "Mit Rücksicht auf den bedeutsamen Wert als Zeitdokument der deutschen Kunst des XX. Jahrhunderts bestimmte die Kommission, folgende zweifelsfreie Grenzfälle der beschlagnahmten Objekte den Galerien wieder zur Verfügung zu stellen."

Zu den sechs nach München zurückgegebenen Gemälden zählten neben Werken Lovis Corinths auch die "Roten Rehe II". "Mit der Rückgabe soll zugleich für die betreffende Galerie die Auflage verbunden sein, die fraglichen Werke im Depot unter Verschluß zu nehmen und sie weder zu veräußern noch wieder auszustellen, es sei denn, daß sie zu einem späteren Termin in einer etwaigen Ausstellung zeitgenössischer Malerei als Dokument der ,Kunst zwischen den Kriegen' gezeigt werden." Diese Begründung für die Rückgabe ist ihrerseits so kurios wie ambivalent: Als "Zeitdokument", also nicht als Kunstwerk, wurden die Werke Franz Marcs von den Nationalsozialisten gebilligt und der Nachwelt erhalten, aber dennoch nicht ausgestellt. Wertschätzung und Wertrelativierung fanden zeitgleich statt.

Franz Marc und seine Ehefrau Maria. (Foto: SZ Photo/Sammlung Megele)

Die Kunstwerke Marcs wurden für die Verwendung in der Zukunft im Depot quasi in einer Zeitkapsel eingefroren, konserviert und mit der auf Marc gar nicht zutreffenden Kategorie "Kunst zwischen den Kriegen" tituliert. Trotz der Diffamierung des Expressionismus erwiesen sich Marcs Tierbilder in ihrer religiös-romantischen Inbrunst als nicht von dieser Welt und deshalb auch nicht verfügbar für die nationalsozialistische Propaganda. Nach 1945 erlebte die Kunst Marcs einen beispiellosen Rehabilitationsprozess, der zugleich als Akt moralischer Wiedergutmachung am Werk des Künstlers wie an der Kunstgeschichte der Moderne zu interpretieren ist.

Neben anderen Meisterwerken wurden auch die "Roten Rehe II" die ästhetisch-moralischen Botschafter der Rehabilitation Franz Marcs. Angefangen von einer Franz Marc-Retrospektive 1946 in der Galerie Günther Franke in München war das Gemälde 1947 in Bamberg und Regensburg zu sehen, in den 1950er Jahren in Wolfsburg, Salzburg, Rom, in den 1960er Jahren in Wien, Straßburg, Hamburg, Florenz, Berlin und Basel. Die zahlreichen Aufkleber auf dem Keilrahmen der Leinwandrückseite, die zudem ein bemaltes früheres Landschaftsfragment zeigt, deuten diese Geschichte einer langen und späten Reise an. Fast drei Jahrzehnte, von 1974 bis 2002, wurden die "Roten Rehe II" auch als 30-Pfennig-Briefmarke in einer Auflage von vielen Millionen Stück produziert. Die Zeiten der großen Popularität, die sich Franz Marc für seine Kunst so gewünscht hatte, waren angebrochen: "Wir werden aber nicht müde werden, die neuen Bilder zu zeigen, bis der Tag kommt, wo wir unseren Ideen auf der Landstraße begegnen."

Genau 100 Jahre nach ihrer generösen Erwerbung sind die "Roten Rehe II" nun wieder in der Sammlung Moderne Kunst in der Pinakothek der Moderne ausgestellt, nachdem sie seit 1988 als Leihgabe im Franz Marc Museum in Kochel zu sehen waren. Diese dauerhafte Präsentation in München unterstreicht die große Bedeutung des Gemäldes für die Sammlung und die wechselhafte Rezeption Marcs. Das Bild steht für die Anfänge des expressionistischen Sammelns in den Pinakotheken - nicht durch die Initiative des Museums selbst gesetzt, sondern durch die weitsichtige Schenkung Annette von Eckardts. Die "Roten Rehe II" bewahren so auch ein Andenken an die innige Beziehung Marcs zu seiner ersten großen Liebe, die in Zukunft im Erwerbshinweis als "Schenkung Annette von Eckart" genannt werden wird.

Der Autor ist der Sammlungsleiter "Klassische Moderne" der Pinakothek der Moderne

© SZ vom 28.12.2017 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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