Wenn sich jene Architektur durchsetzen würde, die in Berlin von Stefan Gradmann skizziert wurde, dem Präsidenten der Deutschen Gesellschaft für Informationswissenschaft und Informationspraxis, dann hätte sie sogar das Zeug dazu, dem kulturellen Erbe der Welt in Sachen digitaler Präsenz die Zukunft zu weisen.
Mittelalterliche Handschriften wie der "Parzival" von Wolfram von Eschenbach aus dem 13. Jahrhundert finden nur selten den Weg ans Tageslicht - zu empfindlich sind die Seiten. Digitalisiert ist der Zugang uneingeschränkt.
(Foto: dpa)Bislang folgt die Ordnung der Bestände auch in digitalen Bibliotheken und Archiven der Logik des Katalogs. Die Beschreibung und Referenzierung in Metadatensätzen ist, ob sie auf Papier oder in Nullen und Einsen erfolgt, eine statische Angelegenheit. Zwar sind Museen und Archive stärker kontextorientiert als Büchereien, doch "die Bibliothekensicht", so Gradmann zurecht, habe bislang "alle Kulturportale geprägt, inklusive dem, was man heute von Europeana sieht."
Unter Gradmanns Leitung ist das "Europeana Data Model" entwickelt worden, ein Referenzierungssystem, das nach den Prinzipien des semantischen Webs jedes Objekt mit beschreibenden Daten und Kontextdaten versehen würde, die beliebig erweitert und verlinkt werden könnten. Und Linked Open Data würde eine Verknüpfung von Wissen aus Archiven, Bibliotheken und Museen weit über die Informationscontainer individueller Datenbanken ermöglichen. Voraussetzungsloses Auffinden und assoziatives Weitersuchen wie in der Suchmaschine, nicht mehr das Entlangtasten am Schlagwortkatalog - so würde Europeana eine Revolution in der Organisation unseres kulturellen Gedächtnisses vorantreiben. Die Kulturerbe-Einrichtungen, sagt Gradmann, könnten sich in eine globale Wissensarchitektur einbringen. Ihnen stellten sich dadurch aber auch neue Fragen, denn: "Wie viele partikulare Institutionen sind dann noch sinnvoll und erforderlich?"
Mutig vorangegangen in der digitalen Öffnung war das Bundesarchiv, das seit 2008 sein Bildarchiv in der deutschen Wikipedia hochlud. Die Kooperation war ein immenser Erfolg. Um 193 Prozent wurden die Einnahmen des Bundesarchivs zwischen 2008 und 2010 gesteigert, die schriftlichen Anfragen an das digitale Bildarchiv nahmen um 230 Prozent zu. Eine Vielzahl falscher Bildreferenzen konnte durch Nutzerhinweise korrigiert werden. Der Leiter des Bildarchivs Oliver Sander sagt darum, die Zusammenarbeit mit Wikipedia "war und ist hervorragend".
Dennoch beendete das Bundesarchiv sie vor einem Jahr. Schuld waren nicht so sehr die Reibungen im Betrieb, zu denen das erhöhte Nutzerinteresse bei gleichbleibendem Etat und Personalstand unvermeidlich führte. Vielmehr wurde man dem massenhaften Missbrauch der Bilder nicht Herr, die in satten 95 Prozent der Fälle außerhalb von Seiten der Wikipedia nicht mit den nach der Creative-Commons-Lizenz notwendigen Angaben verwendet wurden. "Kein Irrweg, sondern ein Lehrpfad" sei das Wikipedia-Experiment gewesen, meint Sander heute dennoch. Die Konsequenz könne in keinem Fall sein, dass man sich wieder aus dem Netz zurückziehe. Im Gegenteil lasse der Auftrag des Archivgesetzes, Bestände nicht nur zu verwahren, sondern auch nutzbar zu machen, gar keine andere Wahl, als eben ein digitales Bundesarchiv zu werden.
Dass die etablierten Kulturbewahrer an einer Abgrenzung zu den digitalen Wissensvermittlern gar kein Interesse mehr haben, dass sie sich als Teil ein und der selben Community begreifen, machte in Berlin auch Preußenstiftungs-Vize Schauerte mit einem Satz klar, der vor wenigen Jahren noch für Schockreaktionen gesorgt hätte: "Man kann sich über die Museumsinsel genauso gut bei der Wikipedia informieren wie auf unserer eigenen Website."