Christoph Dallachs Krautrock-Geschichte "Future Sounds":Wegrennen, verdrängen, verarbeiten

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Komische Heilige mit ernsten Musikdoktrinen: Die Band "Can" 1971 mit Irmin Schmidt (li.), Jaki Liebezeit, Michael Karoli, Ulli Gerlach, Holger Czukay und vorne Damo Suzuki. (Foto: Jacques Breuer/Picture Alliance)

Christoph Dallach hat eine große Oral History des Krautrock zusammengestellt. Endlich wird auch klar, wie wenig das im Ausland so gefeierte Genre mit visionärem Zukunftsdenken zu tun hatte - und wie viel mit der deutschen Geschichte.

Von Diedrich Diederichsen

Am Ende wünscht man sich, all diese alten Männer, die hier reiches biografisches Material ausbreiten, erschütternde Anekdoten und immer wieder unerwartete Einsichten zum Besten geben, würden genau das tun, was sie einst zusammengebracht hat: Musik machen. Wenn das Entstehen relevanter, faszinierender, wegbereitender Musik an Erinnerungen geknüpft wird, an Seelenzustände und intellektuelle Stadien, die man lange hinter sich gelassen hat, will man doch hören, wie sie mit ihrem milden Abstand von heute das heiße Material von damals anfassen würde: von dieser, über die Jahre gewonnenen reflexiven Distanz aus, die man zwischen sich und LSD, endlose Jams und komische Heilige mit ernsten Musikdoktrinen in den vergangenen 50 Jahren gelegt hat.

Stattdessen haben die meisten dieser Männer diese Jahre den Rezipienten und Rezipientinnen geschenkt, die in immer neuen Generationen immer mehr an Krautrock entdeckt, gewürdigt, wiederveröffentlicht und weitergeführt haben. Auch wenn für meine Generation in der alten BRD Punk genau gegen diese Musik erfunden wurde, haben unsere britischen und amerikanischen Idole schon damals für Krautrock geschwärmt: John Lydon von den Sex Pistols oder Pete Shelley von den Buzzcocks waren nicht die einzigen bekennenden Krautfans - allerdings mochten die noch Bands, die man als Punk gut mögen konnte wie die wilden Amon Düül II oder Can, die eben einfach gut waren. Die Besten. Von Generation zu Generation wurden immer esoterischere und unerträglichere schwäbische Tabla-Mönche und schwelgende Orgelromantiker in den Kanon aufgenommen. Amerikanische Experimentalhipster wie Oneohtrix Point Never sind notorisch stolz darauf, die hässlichsten und abgelegensten Krautelektroniker zu kennen, zu zitieren und zu verwursten.

Der trübe Alltag dieser Musik war leider: Nur selten spielten "Can" und "Faust", meist waren es "Jane", "Karthago" und "Wind"

Der Musikjournalist Christoph Dallach hat für sein Buch zwei vorderhand langweilige Entscheidungen getroffen, die aber ausgesprochen unterhaltsame Resultate hervorgebracht haben. Zum einen hat er sich das Thema Krautrock vorgeknöpft, über das es eigentlich mehr als genug zu lesen gibt. Dringend notwendig wäre stattdessen mal eine Darstellung von italienischem und französischem, osteuropäischem oder lateinamerikanischem Prog- und Experimentalrock der Siebziger. Oder eine Befreiung der Siebzigerjahre-Diagnostik vom nationalkulturellen Blickwinkel. Zum anderen hat er das 1982 durch die Edie-Sedgwick-Biografie von Jean Stein und George Plimpton aufgekommene und von Legs McNeil und Gillian McCain für ihre Geschichte des New Yorker Punkrock erfolgreich adaptierte Genre der Oral History oder O-Ton-Dokumentation wiederbelebt, das schon Jürgen Teipel ("Verschwende Deine Jugend") und nach ihm diverse Nachahmer für die deutschsprachige Musik- und Generationengeschichtsschreibung eingesetzt hatten.

Dass die Wahrheit über historische Momente in den O-Tönen der Zeitgenossen bewahrt werde, ist ein Irrtum, der auch 90 Prozent aller zeitgenössischen Dokumentarfilme ruiniert. Aber in Dallachs "Future Sounds" werden gerade nicht irgendwelche Fakten in überflüssig authentische O-Töne übersetzt. Vielmehr kommen Leute zu Wort, und auch viel ausführlicher als sonst in solchen Werken, von denen man sich gerne etwas erzählen lässt. Dabei gelingt zwar selbst den eloquentesten unter ihnen selten, zu den einschlägigen Siebziger-Themen wie LSD, die sagenhafte Provinzialität der restlichen BRD und einer insgesamt viel improvisierteren und unprofessionelleren Zeit noch Neues zu sagen. Aber fast alle beherrschen sowohl das biografische wie das historische Genre: Sie wissen, dass über all das schon sehr oft geredet wurde und suchen nicht nach dem noch unbekannten Faktum oder Album, sondern nach interessanten Deutungen, die sie an ihre Lebensgeschichte andocken.

LSD-Esoterik und elektronische Experimente: Frank Fiedler und Florian Fricke von "Popol Vuh" vor ihrem Moog-3-Synthesizer. (Foto: Bettina Fricke/Suhrkamp)

Dabei hilft es, dass Dallach bei der Wahl seiner Gesprächspartner über den Tellerrand des Genres hinausgeschaut hat: Zu Wort kommen Free Jazzer wie der eigentlich immer richtig liegende Peter Brötzmann und der große Alexander von Schlippenbach, der mit Jaki Liebezeit in einem Kölner Jazz-Ensemble gespielt hat, das sogar in Bernd-Alois-Zimmermann-Opern auftrat. Er respektierte Liebezeits Wechsel zur Rockmusik, hat sich aber nie eine Can-Platte angehört. Und mit Agitation-Free-Gründungsmitglied Lutz Ludwig Kramer kann auch mal eine andere und erfrischende Stimme der Westberliner Avantgarde um das legendäre "Zodiak" auspacken. Renate Knaup wirft ein neues Licht auf die Amon-Düül-Geschichte: Die meisten Mitglieder kamen aus betuchteren Familien.

Mit Gabi Delgado-López, Jaki Liebezeit, Holger Czukay und Christian Burchard sind leider auch schon vier der Interviewten während der Produktion des Buches verstorben. Mit Gerd Augustin, Siegfried E. Loch und Bernd Dopp sind Plattenfirmen und Veranstalter vertreten, mit Siegfried Schmidt-Joos, Manfred Gillig und Winfried Trenkler Journalisten, die der Szene freundlich gegenüberstanden. Jemand, der wie der Autor dieser Zeilen während der Jahre 1971 bis 73 nahezu wöchentlich eine andere deutsche Progrock-Band live sah, vermisst ein wenig den trüben Alltag dieser Musik: Nur selten spielten Can und Faust, meist waren es Jane, Karthago und Wind - und die waren alle sehr beliebte Headliner. Der Eindruck, dass man in Deutschland während der Siebziger, als Bands Wallenstein und Novalis hießen, flächendeckend interessante experimentelle Musik machte, konnte sich nur Briten aufdrängen, die ein Jahrzehnt später das Material am Schreibtisch sortierten. Und auch Faust sollten eigentlich unter dem Namen Götterdämmerung auftreten.

Der von denselben Briten viel verbreitete Mythos, die Radikalität der Musik habe mit einer politischen korrespondiert und in den Siebzigern habe der durchschnittliche deutsche Langhaarige die Zeit zwischen einer Fassbinder-Matinee und einem Popol-Vuh-Konzert damit verbracht, RAF-Leute zu verstecken und die Rote Hilfe aufzubauen, wird dankenswerterweise auch korrigiert: Von jener Nacht abgesehen, die Baader, Ensslin und Gefolge in den Betten der Münchner Düül-Kommune verbracht haben, erfahren wir, dass die meisten Protagonisten Willy Brandt nähergestanden haben als den maoistischen K-Gruppen. Den "gläubigen Kalbsblick" bei der SDAJ und dem Moskau-treuen Flügel des Siebziger-Kommunismus beschreibt Irmin Schmidt ohnehin sehr treffend.

Irmin Schmidt erzählt am schönsten, verschlungensten und reflektiertesten

Überhaupt Irmin Schmidt. Es gibt drei Kristallisationsfiguren in diesem Buch, auf die die Narration immer wieder zurückkommt: der bekannte Intellektuelle und Faust-Produzent Uwe Nettelbeck, der leider nicht mehr lebt, der umtriebige Deuter, Autor und später Organisator von Labels und LSD-Nachschubwegen Rolf-Ulrich Kaiser, der leider oder für manche Betroffene auch: zum Glück verschollen ist und als Untoter durch diese Oral History geistert, und Irmin Schmidt, der am schönsten, verschlungensten und reflektiertesten erzählt.

Brian Eno erklärt die deutsche Musik der Siebziger damit, dass sie sich nicht auf andere Popmusik beziehe, sondern auf bildende Kunst - aber das ist eher seine Geschichte und die der britischen Art Schools. Schmidt steht für eine Geschichte, die bildende Kunst vor allem als Fluxus, also bereits unter Bezugnahme auf zeitbasierte Künste wie Musik einschließt, aber ansonsten ganz andere Ursprünge hat: Neue Musik als Anfang und Jimi Hendrix als einschneidende Ermunterung, Jazz und improvisierte Musik ganz neu, nämlich elektrisch, glamourös und vor allem laut und noisy neu zu erfinden. Hendrix ist das meistgenannte Erweckungserlebnis, das aber nie so funktioniert hätte, wenn es nicht eine schon entwickelte Avantgardeprägung gegeben hätte, die der Gitarrist konkret negiert hätte.

Christoph Dallach: Future Sounds - Wie ein paar Krautrocker die Popwelt revolutionierten. Suhrkamp Verlag, Berlin 2021. 512 Seiten, 18 Euro. (Foto: N/A)

Der andere Strang der hier besprochenen Musik ist das elektronische Experiment, das sich zwischen den Polen Düsseldorfer Hippie-Camp ( Kraftwerk, Rother, NEU!), kauzig-künstlerischen Eigensinn (Asmus Tietchens, Conrad Schnitzler) und LSD-Esoterik ( Tangerine Dream, Kosmische Kuriere) bewegt. Es ist hier gut dokumentiert, auch Tietchens, Möbius und Roedelius sind einnehmende Erzähler. Nur der esoterischen Fraktion geht die Nachdenklichkeit ein wenig ab: Während viele ihre politischen Positionen relativieren, erklärt eigentlich niemand, wie man zu den, nun ja, metaphysischen Einlassungen von einst heute steht. Die Synthesizer-Fraktion hat auf die nächste und vor allem die übernächste Generation weltweit den größten Einfluss gehabt. Dennoch wären neben Gabi Delgado andere Gesprächspartner naheliegend gewesen: die Frauen um und in Malaria!, die ja mit Tangerine-Dream- und anderen Nachfahren gearbeitet haben. Oder S.Y.P.H., die mit lakonischem Humor und direkt vom antiesoterischen Punkrock kommend sich in die Zusammenarbeit mit Holger Czukay gestürzt haben.

Doch da galt schon "No Future". Dallach hat sein Buch aber, wie vor ihm schon David Stubbs ("Future Days"), der Zukunft gewidmet, die damals offen zu sein schien. Dabei stellen vor allem Peter Brötzmann und wieder Irmin Schmidt ziemlich klar, dass diese Zukunft kein Versprechen, keine Utopie war, sondern aus der existenziellen Notwendigkeit hervorging, sich von einer Vergangenheit abzusetzen, mit der man nichts zu tun haben wollte, vor der man so weit, so schnell und so laut wie möglich weglaufen wollte: der deutschen - im Gegensatz zu all den englischen und amerikanischen Prog-Rockern und Free Jazzern, die sich immer auch auf irgendetwas aus der Tradition beziehen konnten. Diese (west-)deutsche Mischung aus Wegrennen und Verdrängen, Verarbeiten und Umlenken dieser Vergangenheit war der Kern dieser Musik.

Korrektur: In einer früheren Version dieses Artikels war in der Bildunterschrift von Thomas Fricke die Rede. Der Musiker heißt natürlich Florian Fricke.

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