Konzert:Großes Priestertum

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Melancholiederzyklus als erhebende Musikmesse: Nick Cave offenbart sich im Zenith

Von Alex Rühle, München

Schon seltsam, wie schnell man sich bei diesem Konzert wie bei einem charismatischen Gottesdienst fühlt. Nick Cave! Das war doch der, der bei seinen frühen Münchner Besuchen den Circus Krone zerlegt hat. Der sich bei Interviews gerne mal einen Schuss setzte. Und mit Blixa Bargeld und Mick Harvey zwischen Schallmauer und Tinnitus herumberserkerte. Jetzt steht er da oben, inmitten der selig lächelnden Fans, die er gerade auf die Bühne gebeten hat, und rät ihnen allen, den Himmel immer weiter wegzuschieben.

Genauso seltsam: Wie soll man mit "Skeleton Tree" eine Halle zum Kochen bringen? Caves neues Album ist ein abgrundtiefer Melancholiederzyklus über Tod und Abschied, im Nachhinein wurde es auch noch zum Requiem auf seinen eigenen Sohn, der während der Aufnahmen 2015 tödlich verunglückte. Cave beginnt den Abend im Zenith mit drei Songs daraus, raunender Sprechgesang, dunkle Klangcluster, und er wird noch fast das komplette Album spielen. Mitten im Leben sind wir vom Tod umgeben. Trotzdem wird das Ganze ein erhebendes, aufwühlendes Konzert, voll wilder Kraft, und für viele Zuhörer eine säkulare Messe.

Zum Einen liegt das daran, dass Nick Cave Kommunion mit seinen Fans feiert: Er hält die entgegengestreckten Hände wie ein Wunderheiler, lang und innig. Es genügt ihm auch nicht, sie im Song "Higgs Boson Blues" zu fragen, ob sie sein Herz schlagen hören, er beugt sich zu ihnen herab und drückt ihre Finger an seine Brust, wie Jesus die des zweifelnden Jüngers Thomas, ich bin es wirklich! Klingt nach Kitsch? Aber ja. Dass er aber funktioniert, sieht man schon daran, mit welcher Inbrunst tätowierte Glatzen und ironiegestählte Mittvierziger einträchtig "Into my Arms, O Lord" singen.

Zum Anderen aber hat Cave sich über all die Jahre eine berserkerhafte Kraft bewahrt. Nach wenigen Sekunden Fanverschmelzung springt er auf und tigert am Bühnenrand auf und ab, hager, finster, in seinem schwarzen Anzug, wie ein Hohepriester mit guten Kontakten zum Fürsten der Finsternis, aber noch viel besseren zu einem mystischen Erlöser namens Rock'n'Roll. Und die Bad Seeds, die ihm gerade noch einen seidigweichen Klangteppich zu Füßen legten, fangen an zu pulsen und pumpen und beweisen, dass sie den Industrial-Krach der frühen Alben über die Jahre zu edlem Stadionhymnenlärm gekeltert haben, "From Her to Eternity" oder "Tupelo" haben die frühe, raue Kraft, aber jetzt mal alle mitsingen! Wird gemacht. Und Cave steht da, man weiß nicht, dirigiert er die Musiker? Segnet er die Gemeinde? Lächelt er, weil er selbst von all den Jesus-, Teufels- und Schicksalsanrufungen in Ekstase gerät oder weil er sich und uns alle fragt, was wir hier eigentlich gerade machen.

Der einzige Ausrutscher ist das Duett mit der Sopranistin Else Torp, die "Distant Sky" mit besorgter Grundschullehrerinnenmiene wie einen schweren Schicksalsschlager von einer Leinwand herabsingt. Aber egal, denn danach, im Everblack "Weeping Song", taucht Cave mitten im Publikum auf, schreitet durch die perplexe Menge, klettert auf ein Podest, zieht ein paar Mädchen zu sich hoch, um dann zur Bühne zurückzutreiben und wie auf einer Jam-Session zu Hippie-Zeiten bei "Stagger Lee" die vorderen Zuschauerreihen auf die Bühne zu bitten. Einer selig wippenden, entrückten Kongregation eine Mörderballade vorzusingen, das hat diabolische Ironie. Sie mit der existenziellen Durchhalteparole "Push the sky away" auf die Reise in die Nacht zu schicken, ist großes Priestertum.

© SZ vom 04.11.2017 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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