Klassikkolumne:Unter Hochspannung

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Der grandiose Dirigent Dimitri Mitropoulos vor der Mailänder Scala. Dort starb er während einer Probe 1960. (Foto: Keystone/Getty Images)

Auch in älteren Epochen lässt sich noch musikalisch Neues entdecken. Inwieweit das Klima dabei eine Rolle spielt, ist umstritten.

Von Helmut Mauró

Der klassische Freund guter Musik ist ja ein durch und durch dialektisches Phänomen. Er vertraut auf das Bekannte, dessen Tonsprache er versteht, und sucht beständig das Neue. Dieses wiederum gerne auch im Alten und Vergessenen, dessen Klangdialekte zu ihm sprechen wie die gutmütige Großmutter und nicht wie der verrückte Enkel. Der hört lieber Helmut Lachenmann und so Sachen und freut sich, dass das Stuttgarter Kammerorchester jetzt klimaneutral ist. Klingt gut. Wahrscheinlich absolvieren die Musiker ihre Welttourneen jetzt mit dem Fahrrad. Oder sie bleiben zu Hause.

(Foto: N/A)

Der römische Cembalist Fernando De Luca macht es sich auch gerne daheim gemütlich, wo er ein fantastisches Instrument zur Verfügung hat und im Geiste durch Welten und Zeiten reist. Gerade ist er im Frankreich der Barockzeit unterwegs. Eine bedeutende Epoche auch hier, mit herausragenden Musikern wie Jean-Baptiste Lully, François Couperin oder Jean-Philippe Rameau. In deren Schatten stand und steht der Organist Christophe Moyreau (1700 - 1774), der aus einer alteingesessenen Familie in Orléans stammte und dort ein erfülltes Musikerleben genoss. Dass er, wie seine berühmteren Kollegen, ebenfalls wunderbar neue Musik komponierte, und dies mit ganz eigenen stilistischen Neuerungen, glaubt einem heute niemand mehr. Die einzige Komposition, die die Zeiten überlebte, ist das Orgelstück "Die Glocken von Orléans", und ja, es imitiert die Glocken von Orléans. Aber nun tritt Fernando De Luca auf den Plan und präsentiert auf sieben erstaunlichen CDs das Cembalo-Werk des klimaneutralen Monsieur Moyreau. Er hat großen Spaß dabei und lässt den Hörer in jedem Moment daran teilhaben. Vieles dreht sich um muntere barocke Spielfiguren, die Moyreau aufs Kunstvolle verschnörkelt und wieder auflöst, manchmal ein Perpetuum mobile vortäuschend, ein andermal aufgeregte Dramatik. (Brilliant)

(Foto: N/A)

Damit ist er grundsätzlich gar nicht so weit weg von dem italienischen Großmeister Domenico Scarlatti, ein kaum älterer Zeitgenosse, geboren 1685, im gleichen Jahr wie Händel und Bach. Allerdings, das zeigt der italienische Pianist Andrea Molteni, legt Scarlatti seinen gestalterischen Schwerpunkt noch mehr aufs Virtuose - dafür ist er bis heute berühmt und beliebt. Molteni, der einen klimaneutralen Konzertflügel verwendet, fühlt sich wohl in der barocken Welt der überbordenden Vielfalt und Lebensfreude, in der man unter Kunst immer auch das Kunstvolle im konkreten handwerklichen Sinn verstand. Die Begeisterung für das schiere Können war selten so ausgeprägt wie in dieser Zeit. Das galt für die Komposition, man denke nur an Bachs "Kunst der Fuge", wie auch für das fingerfertige Spiel. Der Livewettbewerb in Rom zwischen "Il Sassone" Händel und Scarlatti war eine Sensation. Händel gewann. Scarlatti ebenso. Der eine auf der Orgel, Letzterer auf dem Cembalo. Heute müsste man also Molteni gegen De Luca antreten lassen. Schwer zu sagen, wer gewänne. Wahrscheinlich wieder beide. (Piano Classics)

Dimitri Mitropoulos, The Complete RCA and Columbia Album Collection (Sony) (Foto: N/A)

Was man auch über den Wettbewerb von Dimitri Mitropoulos und zahlreichen großen Solisten sagen kann, von Zino Francescatti bis David Oistrach, von Vladimir Horowitz bis Robert Casadesus. Mitropoulos, 1896 in Athen geboren, war einer der bedeutendsten amerikanischen Dirigenten. Am 2.November 1960, während einer Probe in der Mailänder Scala zu Mahlers Dritter, starb er an einem Herzinfarkt. Er galt als Spezialist für Mahler und für die Moderne, dirigierte aber fast das komplette klassische Repertoire. 1950 wurde er Nachfolger von Leopold Stokowski als Chef der New Yorker Philharmoniker, und - trotz der Behauptungen intriganter Gegner am Ende seiner Karriere - die New Yorker Philharmoniker klangen so fein austariert und aufmerksam wie selten wieder. Leider sind nicht alle dafür maßgebenden Aufnahmen, etwa mit den Tondichtungen von Richard Strauss, erhalten oder qualitativ hochwertig genug, um in der umfangreichen Edition der Einspielungen mit dem Minneapolis Symphony und dem New York Philharmonic Orchestra (Sony) zu erscheinen. Und obgleich Mitropoulos den Orchesterklang bis in feinste Verästelungen in faszinierend schütterer Klarheit hochdramatisch ausdifferenzierte, entsprach sein Dirigierstil doch eher selten diesem Klangbild. Er war vor allem ein physischer Dirigent, der durch schiere Präsenz und körperliche Anspannung wirkte. Er schien nicht nur unter Strom zu stehen, sondern unter Hochspannung, die sich hin und wieder entlud. Dabei sprang er gerne mal einen halben Meter hoch, ganz so, wie wir es von seinem gelehrigen Schüler Leonard Bernstein kennen. Unklar ist bis heute, inwieweit dieser in die letztlich erfolgreichen Intrigen im nicht mehr neutralen Klima der New Yorker Philharmoniker gegen ihren Chefdirigenten Mitropoulos involviert war, bevor er dessen Nachfolge antrat. Dass er von Mitropoulos vieles und Entscheidendes gelernt hat, das hat er allerdings immer betont.

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