Klassik:Spielernatur

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Ivry Gitlis 2004 bei der Trauerfeier für Schauspieler Peter Ustinov. (Foto: dpa)

Ivry Gitlis, einer der ganz großen Geiger, hat mit den "Rolling Stones" wie mit Marcel Marceau musiziert. Jetzt ist der 92-Jährige noch einmal aufgetreten.

Von Harald Eggebrecht

Der 92-jährige Geiger Ivry Gitlis ist einer der originellsten Musiker unserer Zeit, ein Solitär. Sein Ton ist unverwechselbar, bei Aufnahmen ist nach wenigen Takten klar, wer spielt. Der Klangfarbenreichtum, die Phrasierungsfantasie, die Sinnlichkeit seines Spiels, die sprechende Virtuosität, die Freiheit des Artikulierens - für all das gibt es keinen Vergleich. So ist es eine kostbare Erfahrung, den alten Meister noch einmal hautnah erleben zu können, wie jetzt in der Kronberg Academy bei Frankfurt, wo er zwei Tage lang junge Musiker unterrichtet.

Die Legende

Ivry Gitlis wurde 1922 in Haifa geboren, begann als Fünfjähriger und trat mit neun erstmals auf. Er spielte dem großen Bronislaw Huberman vor, der das Palestine Philharmonic Orchestra, das heutige Israel Philharmonic gründete. Huberman ermöglichte Gitlis ab 1933 einen Studienaufenthalt in Paris. "Nach Deutschland konnte ich da nicht mehr und auch nicht nach Russland", so Gitlis. Er studierte bei Jules Boucherit, Jacques Thibaud und Georges Enescu. "Aber der Kurs in Belgien bei Carl Flesch, der war schon revolutionär." Die Systematik, mit der Flesch das Spiel je nach Talent erkundete und beibrachte, imponierte dem Freigeist Gitlis. Beim Einmarsch der Deutschen floh er nach England, drei Schiffe legten ab, zwei versenkten die Deutschen in Grund, nur das mit ihm und seiner Mutter kam durch. Dort arbeitete er in einer Rüstungsfabrik, dann musizierte er für die Truppenbetreuung.

Gitlis, der stolze Israeli, lebt längst wieder in Paris. 1951 nahm er am Long-Thibaud-Wettbewerb teil - und wurde nur fünfter, ein Skandal. Sein Pariser Debüt aber hatte Erfolg. Seitdem bereist er die Welt, ob in Amerika, Australien, Asien oder Europa, Ivry Gitlis bleibt allen unvergesslich, die das Glück hatten, ihn zu hören. Er war bei John Lennons Projekt "The Dirty Mac" dabei und er hat auch mit den Rolling Stones gespielt. Martha Argerich gehört zu seinen engsten Vertrauten. Ihre gemeinsamen Auftritte auf den Straßen von Paris während des Mai 68 sind legendär, ihre Einspielungen denkwürdig. In den Siebzigerjahren veranstaltete er sein mythenumwobenes Festival de Vence: Jazzmusiker wie der Trompeter Dizzy Gillespie und der Geiger Stéphane Grappelli, der Pantomime Marcel Marceau, der Chansonnier Leo Ferré, aber auch viele klassische Musiker - alle kamen, und Gitlis improvisierte und spielte mit allen. René Leibowitz, Bruno Maderna oder Iannis Xenakis waren von seinem Spiel und Klangsinn begeistert und komponierten für ihn. François Truffaut setzte Gitlis, diesen Feuerkopf und weisen Clown in einer Person, der seine warme sonore Stimme grenzenlos modulieren kann, als Darsteller in "Die Geschichte der Adèle H." ein.

Die Ankunft

Dass der Hochbetagte tatsächlich ins Taunusstädtchen Kronberg kommen und dort begabte junge Geiger, Cellisten und Bratschisten in zweieinhalb Tagen ein paar Stunden lang unterweisen würde, schien nicht nur für den Academy-Direktor Friedemann Eichhorn und Raimund Trenkler, den Initiator und Inspirator der Kronberg Academy, kaum vorstellbar. Würde der alte Meister sich wirklich von Paris hierher aufmachen? Gesundheitsbulletins wurden ausgetauscht. Aus vager Hoffnung wurde allmählich Realität: Am nebligen Sonntagnachmittag rollt das Auto vor, aus dem geöffneten Fenster winkt er, eine Riesenpelzmütze schief auf dem Kopf.

Auch der großartige britische Cellist Steven Isserlis gibt eine Meisterklasse. Die beiden sind seit langem befreundet. So muss sich Gitlis nicht allein auf unbekanntem Terrain bewegen. Am ersten Abend erzählen die beiden vor den Studenten über Vorbilder, Erfahrungen mit den eigenen Lehrern. Wie sie sich selbst in Filmen wahrnehmen? Isserlis stöhnt, er könne sich nicht an- und zusehen, Gitlis aber empfindet ältere Aufnahmen von sich als interessante Begegnung mit einem Fremden. Gitlis folgt keinem vorgegebenem Tagesplan. Man stellt sich darauf ein, dass aus zehn Uhr Beginn leicht 14 Uhr werden kann.

Im Studio spielt Christel Lee, ARD-Preisträgerin 2013, Béla Bartóks 2. Violinkonzert vor. Intensität und Ehrlichkeit der jungen Geigerin rühren den Alten zu Tränen, dieses Stück gehört zu jenen, mit denen er Weltruhm erlangte. Doch dann mahnt er, nicht sofort so stark und mit heftiger Akzentuierung anzufangen. Die Musik habe eine Entwicklung, es sei erst der Beginn der Geschichte. Kunst der Disposition, der Krafteinteilung, der Strukturierung von musikalischer Zeit - er bedauert, dass er sich hier nicht länger mit den jungen Musikern beschäftigen kann.

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(Foto: Andreas Malkmus)

Der Geiger Ivry Gitlis bleibt allen unvergesslich, die das Glück hatten, ihn zu hören.

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(Foto: Andreas Malkmus)

Er versteht sich nicht als Lehrer der Geigerei, sondern als Inspirator.

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(Foto: Andreas Malkmus)

"Weißt du, Violinspiel an sich ist ganz unwichtig...", sagt er.

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(Foto: Andreas Malkmus)

"...Aber die Musik ist interessant, die musst Du spielen, noch mehr: Du musst mit ihr spielen!"

Kultivierung

"Warum nimmst Du den ganzen Bogen?" Gitlis wiegt irritiert den von schütterem Haar umwehten Kopf. Altersgebeugt, doch von sprühender Aufmerksamkeit und schnellem Witz, lacht er: "Weißt du, Violinspiel an sich ist ganz unwichtig, aber die Musik ist interessant, die musst Du spielen, noch mehr: Du musst mit ihr spielen!" Er ermuntert dazu, den Bogen nur so weit zu nutzen, wie es der jeweiligen Phrase dient. Sofort klingt es natürlicher und ohne falsche Betonungen. "Am Frosch scheint es sicherer. Aber musikalisch ist es sinnlos".

Zwei Tage später, nach weiteren Studenten, fragt Gitlis spitzbübisch: "Alle spielen gern am Bogenfrosch. Habt ihr hier in Kronberg besonders viele Frösche?" Er möchte in einer Extrasitzung zeigen, wie der Umgang mit der oberen Bogenhälfte zu "kultivieren" sei, ausnahmsweise einmal über ein technisches Detail reden und demonstrieren, wie man die Bogenhand in sich beweglicher machen kann.

In der Zeit sein

Er hat relativ spät angefangen zu unterrichten, wobei er das Wort nicht schätzt. Es geht ihm nicht um mehr oder weniger perfekte Geigerei, sondern wie mit entwickeltem Spiel die Musik zum "Sprechen" gebracht werden kann.

Gitlis belehrt nicht, er reagiert spontan auf die jeweilige Person und ihr Spiel. Er hört erst aufmerksam zu, lässt dann die Jungen Platz nehmen, unterhält sich, fragt und baut so Vertrauen auf. Ihn interessieren keine Fingersätze oder Technikprobleme, da muss man diesen Großtalenten kaum etwas sagen. "Die sind ja so gut, da kann ich gleich wieder nach Hause fahren," scherzt er. Gitlis dringt vielmehr sofort auf den kontinuierlichen Fluss des musikalischen Erzählens, auf rhythmisches Ausreizen der Klangfiguren und auf die Geheimnisse des Rubatos. Damit meint er jene Kunst, frei und doch in musikalischem Sinn richtig zu spielen. "Was meint frei? In der Zeit zu spielen und so jedem Ton die Zeit zu geben, die er zum Leben braucht."

Bilder und Anekdoten

Wiederholt nimmt er, etwa für die Sonate von César Franck, das Bild vom Haus, für das man den Schlüssel finden muss. Wenn man drin sei, brauche es Zeit, alle Räume auszuforschen. Also arbeitet er mit Hyeyoon Park, vor fünf Jahren jüngste Siegerin in der Geschichte des ARD-Wettbewerbs, intensiv am Sonatenanfang, um "den Schlüssel zu finden." E korrigiert die Bogeneinteilung, dann packt er seine Stradivari aus und spielt kurz vor. Er stützt dabei die Violinschnecke auf dem Geigenkasten ab. Ein erlauchter Moment: Fadendünn, sehr zart klingt die Stradivari, aber Ansatz, Klang, Artikulation des Ivry Gitlis sind so unverkennbar wie zauberhaft. Chad Hoopes, zwanzigjähriger Amerikaner, eine Hochbegabung ersten Ranges, staunt "incredible", wie typisch, unverwechselbar selbst diese wenigen Gitlis-Töne seien.

Ein anderes Lehrmittel sind Anekdoten und Shakespeare-Zitate. Gitlis betont, dass jede Bewegung, jeder Ton letztlich Theater sei: "Wir sind alle Bühnenfiguren, nicht nur auf der Theater-, sondern auch auf der Lebensbühne." Oder die Frage des In-der Zeit-Spielens, wie sie der große Geiger Mischa Elman, den er gut gekannt hat, einst seinem Klavierpartner beantwortete: "May be you are in time, but not in my time!" Gitlis imitiert Elmans Fistelstimme. Oder ahmt den knorrigen Dirigenten Otto Klemperer nach, der auf die Frage, wieso er nicht auswendig dirigiere, antwortete, mit hängenden Mundwinkel wegen einer einseitigen Gesichtsmuskellähmung: Er müsse nichts auswendig lernen, weil er es verstünde, Noten zu lesen. Oder er weist auf Marian Anderson hin, die erste schwarzen Diva an der Metropolitan Opera. Sie habe ihm gesagt, ein Geheimnis der Musik sei "just a fraction of a second before", ein Sekundenbruchteil des Innehaltens unmittelbar vorm Anfang.

Zauber

Die Parodien lösen Gelächter aus, auch dass er jede Sprache klanglich nachmachen kann, auch wenn es Nonsenselaute sind. Er nimmt Klang, Melodie und Phrasierung der fremden Sprache sofort wahr. Das Charisma seiner einzigartigen Persönlichkeit füllt unwiderstehlich die Kronberg Academy. Er würde gerne wieder kommen, sagt er, wehmütig lächelnd . . .

© SZ vom 24.11.2014 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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