Beim dritten Lied muss das Publikum das Jodeldiplom ablegen. Schließlich gibt es in der Klavierbegleitung von Franz Schuberts "Die Forelle" diese immerzu repetierte Figur, die eigentlich klingt wie - nun ja, ein Jodler. Nur dass darauf im Münchner Schloss Nymphenburg wahrscheinlich niemand gekommen wäre, wenn Bryan Benner das Motiv nicht tatsächlich jodeln ließe, während er selbst das Lied zur Gitarre singt. Es ist eine Charmeoffensive zu Beginn seines Auftritts im vornehmen Hubertussaal des Schlosses, in dem schon viele Liederabende stattgefunden haben, aber wahrscheinlich noch keiner wie dieser: Schubert-Lieder auf Englisch, zur Begleitung von Gitarre, Cello, Tuba und Schlagzeug.
Benner weiß genau, dass er Widerstände überwinden muss bei seinem gutbürgerlichen Publikum, in dessen Gesichtern sich anfangs Verunsicherung oder gar Ablehnung spiegelt. Am Ende wird die Hälfte ihm und seinen "Erlkings" stehende Ovationen bringen und wird der ältere Herr in der Reihe vor dem Kritiker, der lange besonders skeptisch geschaut hat, im Takt der vielen Zugaben bedächtig, aber sichtbar mitgerissen mit dem Kopf wippen.
Will man Bryan Benner in eine der vielen auf ihn nicht passenden Schubladen pressen, dann muss man ihn am ehesten einen Singer-Songerwriter nennen. Bis heute schreibt der gebürtige Amerikaner eigene Lieder, die er als Frontmann mehrerer Bands singt. Daneben hat er klassischen Gesang in mehreren Ländern studiert, bevor er sich bei seiner letzten Studienstation in Wien endgültig in die Lieder des Wieners Franz Schubert verliebte. Doch wenn er, als klassischer Bariton am Flügel stehend, die Lieder sang, dann fehlte ihm etwas, wovon er beim Auftritt in München in einer ziemlich unnachahmlichen Mischung aus Wiener Schmäh und amerikanischem Restakzent erzählt: die Direktheit. Weil da zum einen die sprachliche Hürde war und zum anderen das Klavier, mit dem er nicht so umstandslos verschmelzen konnte, wie er es beim Singen eigener Lieder zur Gitarre gewöhnt war.
Die fehlende Direktheit ist oft ein Problem beim klassischen Liedgesang, nicht nur bei Nicht-Muttersprachlern. Das Kunstlied klingt ziemlich schnell mehr nach Kunst als nach Lied, wenn sich dem Melodiefluss die Tücken der klassischen Gesangstechnik entgegenstellen oder wenn klassische Sänger, durchaus im Bemühen um Vermittlung der Inhalte, jedes Wort einzeln zu färben beginnen - einer der vielen Gründe, warum Liederabende unter den klassischen Gattungen gegenwärtig wahrscheinlich das größte Imageproblem haben. Obwohl es durchaus eine Generation von jungen, um Direktheit bemühten Liedsängern gibt, haftet Liederabenden oft der Ruch von Spezialveranstaltungen für ein aussterbendes Bildungsbürgertum an, das die vertonten Gedichte noch in der Schule gelernt hat und sich auskennt in ihren kanonischen Vertonungen.
Benner spielt ironisch mit diesem bildungsbürgerlichen Affekt, wenn er das Publikum in München den Text von Goethes "Erlkönig" rezitieren lässt, aus dem Schubert eines seiner bekanntesten Lieder gemacht hat: "Wer reitet so spät durch Nacht und Wind?" Oder, bei Benner: "Who rides through the night,/ So late in the wild?" Die Erlkings erzählen das Lied, das der Band bei der Gründung im Jahr 2014 den Namen gegeben hat, als die reißerische Gruselgeschichte, die es ist. Die repetierten Triolen klingen auf der Gitarre wie das Reitmotiv aus einem Western, die Tuba steuert die bedrohlich jagenden Bässe bei, für den faulen Zauber des Erlkönigs ist das Vibraphon zuständig, das hier überhaupt oft das bei Schubert so wichtige irreale Moment übernimmt. In den Erlkings haben sich ein paar ziemlich unorthodoxe Musiker zusammengefunden: Der Schlagzeuger Thomas Toppler hat auch Clown studiert und leitet eine englische Theatertruppe, der Tubist Simon Teurezbacher bringt seine ländlichen Blaskapellenerfahrungen ein und der Cellist Ivan Turkalj spielt in einem Jazztrio, ist aber auch mit der historischen Aufführungspraxis auf dem Barockcello vertraut.
"Wir interpretieren Kunstlieder mit dem breiten musikalischen Wortschatz der Gegenwart", sagt Turkalj vor dem Konzert bei einem Gespräch mit der Band, wobei die Genrefrage schlicht irrelevant sei. Nur einen Begriff lehnen die Erlkings für ihren Zugang zu Schubert strikt ab: Crossover. Crossover, sagt Turkalj, sei der Versuch, "cool zu sein, ohne die Essenz des Materials rüberzubringen". Dass es um diese Art von Coolness nicht geht, spürt man schnell. Für seine Übersetzungen wählt Benner, der den schriftlichen Teil seines Masters in Wien über Schubert-Transkriptionen aus dem 19. Jahrhundert abgelegt hat, ein leicht archaisierendes Englisch, das von seiner Liebe zu Shakespeare inspiriert ist. Die Arrangements entwickeln die "Erlkings" in gemeinsamen Sitzungen dezidiert aus dem originalen Notentext der Klavierbegleitung. Dennoch sind die Einflüsse aus dem amerikanischen Folk unüberhörbar, in den ihrerseits einst die Volksmusiken der irischen oder der deutschen Einwanderer eingeflossen ist.
Das Ergebnis ist eine Volkstümlichkeit im besten Sinne, die den Wurzeln des Kunstlieds ziemlich nahekommt. Als die Romantiker zu Beginn des 19. Jahrhunderts verstärkt auf liedhafte Formen zurückgriffen, ging es ihnen schließlich auch um eine neue Ursprünglichkeit. Das gilt besonders für Schubert, der am Anfang der Gattung steht. In seinen Liedern geht es um die Dinge, die Lieder bis heute verhandeln - weshalb denn auch "Der König in Thule" oder "Der Jüngling am Bache" auf Englisch plötzlich verdächtig nach Popballade klingen. Es geht um Liebe, Eifersucht, Todessehnsucht - wie im Liederzyklus "Die schöne Müllerin", den die Erlkings im vergangenen Jahr auf Platte vorgelegt haben (VerdeFish Records) und aus der sie Auszüge nun auch in München singen. "Dein ist mein Herz!" ruft der Müller, wenn er sich geliebt glaubt, oder halt: "Yours is my heart!" Die federnden Rhythmen reißen mit, der Abend macht beste Laune - und reißt doch den Abgrund von romantischer Ironie auf, der bei Schubert oft aus dem Gegensatz zwischen schlichter Melodik und einem eigentlich grausamen Text entsteht. Wie bei der "Forelle", die zu fröhlichem Gejodel am Angelhaken verreckt.
Kein Wunder, dass hier auch klassische Veranstalter zunehmend Potenzial sehen, die Ursprünglichkeit des Kunstlieds wieder erfahrbar zu machen oder sogar ein neues Publikum dafür zu gewinnen. Im Wiener und Berliner Konzerthaus waren die Erlkings ebenso schon zu Gast wie in der Londoner Wigmore Hall oder beim Schleswig-Holstein Musik Festival. Bei Schubert wollen die Erlkings dabei nicht unbedingt stehen bleiben. Im kommenden Jahr soll ihre neue Platte mit der "Dichterliebe" und dem Liederkreis op. 39 von Robert Schumann erscheinen - auf Englisch, mit Gitarre, Tuba, Cello und Schlagzeug.