Kirill Petrenko:Explodierende Herzen

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Die Spielzeiteröffnung der Berliner Philharmoniker mit Dirigent Kirill Petrenko. (Foto: Stephan Rabold/Berliner Philharmoniker)

Dirigent Kirill Petrenko eröffnet die Saison seiner Berliner Philharmoniker. Alles ist auf Brillanz und Überwältigung ausgerichtet. Die Poesie bleibt dabei auf der Strecke.

Von Wolfgang Schreiber

Bei aller Pandemie-Bedrohung: Ihre konzertanten Terminpflichten halten die Berliner Philharmoniker so rigoros ein, als hätte nicht die Seuche Stadt und Land in Beschlag genommen. Der Kalender diktiert: Nach dem Berliner Saisonauftakt muss das Orchester mit Chefdirigent Kirill Petrenko in Salzburg und darauf in Luzern antreten, zu jeweils zwei symphonischen Konzerten. Gleich danach folgt ein Abstecher für zwei Auftritte nach Paris. Zu anstrengend das alles? Für Orchestermusiker und Dirigenten dieses Kalibers sind solche Reisen der gewohnte, möglichst beschwingt zu absolvierende Berufsalltag, der freilich Kraft kostet.

Und das verwöhnte Philharmoniker-Publikum in Berlin? Es hat vor Reisebeginn vom Orchester dank eines einzigen Konzertprogramms zweierlei erhalten: eine vom Regen bedrohte Open-Air-Darbietung in der Berliner Waldbühne und am Tag danach die Saisoneröffnung der Philharmonie, als Art Generalprobe für die anstehende Tour. Kirill Petrenko dirigierte da eines der beiden Reiseprogramme, symphonische Schwergewichte der Komponisten Carl Maria von Weber, Paul Hindemith und Franz Schubert.

Das von Stefan Dohrs seidenzart geblasene Hornsolo - mehr dolce zum Eintritt in Webers zauberische "Oberon"-Welt geht nicht - kam so konzentriert, abgestuft und betörend schön, als würde dieser frühromantische Kosmos gleich zu schweben beginnen. Und als sei selbst das Hygienerahmenkonzept des im Konzert gesichteten Berliner Kultursenators Klaus Lederer, das den Berliner Musik- und Theaterinstituten jetzt irritierend diverse Freizügigkeiten mit den Pandemiefolgen ("Nachverfolgbarkeit möglicher Infektionsketten") zumutet, die reine Unbeschwertheit. Der Saal ist zu achtzig Prozent mit 2000 beglückten Zuhörern gefüllt, die sich ersichtlich nicht überrumpelt fühlen, als Petrenko in der Ouverture den auf den Fortissimo-Appell folgenden Ritt eines Allegro con fuoco so rasch und brüsk nach vorn jagt, als habe er sich ruckartig eines Tempohebels bedient.

Da gibt es bei Schubert Momente einer gewaltbereiten instrumentalen Verdichtung dynamischer Exzesse

Kirill Petrenko, 1972 im russischen Omsk geboren und im Juni 2015 von den Berlinern zu ihrem neuen Chefdirigenten gewählt, eröffnet damit seine dritte Saison bei den Berliner Philharmonikern. Er scheint seiner anfangs spontan geäußerten Glücksempfindung treu bleiben zu wollen. "Ich umarme das Orchester", hatte er, noch als Generalmusikdirektor der Bayerischen Staatsoper, ins Telefon gerufen. Er meint diese Umarmung unverändert ernst, wenn er ohne jede Chefhaltung rasch, fast beiläufig ans Pult tritt und seinen Musikern wie ein Kollege gegenübersteht. Um sie dann mit seiner enormen künstlerischen Energie, einem in Körper und Geist lodernden Feuer, in die symphonische Hochspannung zu treiben. Musiker des Orchesters bezeugen das, so die Hornistin Sarah Willis, die vielleicht das Höllenmarsch-Scherzo in Tschaikowsky sechster Symphonie meinte, als sie bekannte: "Ich dachte, mein Herz explodiert." Da gab es denn auch in Schuberts Großer C-Dur-Symphonie Momente einer gewaltbereiten instrumentalen Verdichtung dynamischer Exzesse, die Angst machen konnten.

Petrenko, medienabstinent wie sonst kein Dirigent, will keine Interviews geben, aber er hat zum Musizieren etwas zu sagen, tut es intern, für Online-Leser. Er hat sein Orchester genau beobachtet: Das Besondere an den Berliner Philharmonikern sei ihre "Fähigkeit und der Mut jedes einzelnen Musikers, ob Solobläser oder Tuttistreicher, während des Musizierens eine so große Freiheit auszustrahlen. Eine Freiheit, die das ganze Gefüge immer im Blick behält". Mit allem Risiko. Ein Musiker beschrieb das Musizieren mit Petrenko als Abenteuer und Wagnis: "Man riskiert so viel wie möglich." Petrenko scheint das ergänzen zu wollen, wenn er von einem Risiko spricht, "bei dem die große Ordnung nicht ins Wanken gerät und die dennoch eine völlige Entfesselung im Moment der Aufführung ermöglicht".

Die Verlaufskurven des Hörens und Begreifens können in Schuberts Symphonie ebenso polarisieren wie in der "Oberon"-Ouverture oder den "Symphonischen Metamorphosen", die Paul Hindemith 1943 im amerikanischen Exil einigen Themen Carl Maria von Webers abgewonnen hat. Die beiden kürzeren Stücke im Zeichen des frühromantisch deutschen Komponisten Weber zusammenzubinden ist Petrenkos großartige Idee, die das Orchester mit virtuoser Geste realisiert. Hindemiths scharfkantige "Metamorphosen" bekommen hier bis in die Fuge und den finalen Gewaltmarsch hinein Frechheit und Farbenpracht. Das raunende Hornsolo, mit dem Schubert dann seine größte Symphonie beginnt, erzeugt die Klammer, welche die drei Werke zusammenbindet.

Zu wenig bleibt dabei Schuberts Geheimnis im Spiel, also das, was Robert Schumann die "himmlischen Längen" genannt hat

Gewinn und Verlust halten sich bei Schubert die Waage. Verfechter moderner Orchesterkunst können Petrenkos Schubert der symphonischen Konfliktfreude nur begrüßen. Sie nimmt im Andante con moto mit der Katastrophe des im fortissimo explodierenden Zusammenbruchs Züge der Verzweiflung an und mündet beklemmend in ein gedehnt panisches Innehalten. Spätestens die überfallartige Parforcejagd des Finalsatzes macht deutlich, dass Petrenko in der symphonischen Konzeption des späten Schubert die Nähe Beethovens sucht: Beethovens dramatische Dynamisierung der Klangformen, seine gedankliche Durchdringung melodischer, rhythmischer Prozesse. Petrenko spitzt die Spannungsverläufe bei Schubert unaufhörlich zu und kommt so jenem Schubert nahe, der sich tatsächlich an Beethovens Neunter messen wollte. Öfters aber steht schon Tschaikowsky in der Tür.

Zu wenig bleibt dabei Schuberts Geheimnis im Spiel, also das, was Robert Schumann die "himmlischen Längen" genannt hat. Die brachiale "Todverkündigung" am Schluss des Finales hat alle Wucht des Schreckens. Das wird von Petrenko aber nicht aus der komponierten Struktur heraus abgeleitet, sondern "diktiert" durch Klangmassierung und Tempodruck. Auf der Strecke bleibt dabei viel von Schuberts liedhafter Poesie, das geschmeidige Atmen, das geduldige Ausfalten der so bedeutsamen "kleinen Noten", die seelenstarke Schubert-Atmosphäre. Im Saal aber herrschte ein zweitausendfaches Glück mit Standing Ovations.

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