Kino:Letzter Ausweg Hoffnung

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Odyssee durch Istanbul: "Son Çıkış", der Eröffnungsfilm, läuft als Deutschland-Premiere. Die zweite Hauptrolle - neben der Stadt - spielt Deniz Celiloğlu. (Foto: Türkische Filmtage)

Einst präsentierte hier Fatih Akin einen seiner ersten Kurzfilme, in diesem Jahr werden die Türkischen Filmtage 30. Politische Themen haben das Münchner Festival von Anfang an geprägt, viele sind heute noch aktuell

Von Luisa Seeling

Ein Sympathieträger ist dieser Tahsin nicht, grauer Anzug, fettes Auto, und dann guckt er ständig so gehetzt. Der Protagonist von "Son Çıkış", dem Eröffnungsfilm der 30. Türkischen Filmtage, ist ein Karrierist - aber einer, der aus der Kurve zu fliegen droht. Im klimatisierten Autoinneren läuft Mozarts "Rondo Alla Turca", draußen steigert sich der Istanbuler Verkehrslärm zu einer irren Symphonie, überall rauscht, hupt und hämmert es, bis sich Mozarts Marsch zur hektischen Synthie-Hymne verzerrt; ungefähr so sieht es wohl in Tahsins Kopf aus. Der junge Architekt, der gerade von einer seiner Großbaustellen kommt, steht kurz vor dem Burn-out. Und dann trifft er Siren.

"Son Çıkış" heißt so viel wie "letzter Ausweg", der englische Filmtitel ist nicht minder treffend: "Siren's Call", Ruf der Sirene. In der griechischen Mythologie locken Sirenen Seefahrer in den Tod, im Film verkörpert Siren das Versprechen auf ein anderes Leben: Sie war Werberin, jetzt lebt sie im Süden der Türkei, trägt Rastazöpfe und baut Bio-Gemüse an. Sie schwärmt von der sauberen Luft, der Aufrichtigkeit des Miteinanders. Ein Aussteiger-Paradies.

Tahsin greift nach der Gelegenheit wie nach einem letzten Strohhalm, er kündigt und macht sich auf den Weg. Doch der gefräßige Moloch Istanbul entpuppt sich als hartnäckig, Tahsins Fahrt zum Flughafen wird zur fiebrigen Odyssee. Er gerät an störrische Taxifahrer, dealende Rentnerinnen, zornige Gentrifizierungsopfer; seine Verzweiflung wächst, doch seinem Ziel kommt er keinen Millimeter näher. Nur weil er Istanbul verlassen will, ist Istanbul noch lange nicht bereit, ihn gehen zu lassen. Deniz Celiloğlu spielt diesen Tahsin wunderbar verkniffen, der Star des Films aber ist die Stadt selbst. Nicht das postkartentaugliche Bosporus-Istanbul, sondern der unansehnliche Teil, in dem es keine Fähren und Möwen gibt, nur Autobahnen, Wohnsilos, Baugruben und Brachen.

Ramin Matins Film, der in München Deutschlandpremiere hat, ist die Geschichte einer Selbstfindung - oder eines Selbstfindungsversuchs, denn, so viel sei verraten, als glücklicher Biobauer wird Tahsin vorerst nicht enden. Zugleich ist "Son Çıkış" eine messerscharfe Kritik an der Bau- und Modernisierungswut, die das Land vor allem seit dem Beginn der AKP-Ära im Jahr 2002 erfasst hat. Ein Unbehagen, das auch in weiteren Festivalbeiträgen anklingt: In "Işığımızın Emekçileri" ("Lives Dedicated To Light") versuchen Techniker in den Istranca-Bergen, die Stromversorgung der 15-Millionen-Metropole Istanbul sicherzustellen - Helden des Alltags, die unter widrigen Bedingungen arbeiten müssen. Einen nostalgischen Blick bietet "Der Fotograf Istanbuls - Ara Güler", ein Film von 1998, in dem die Münchner Regisseure Erdal Buldun und A. Özdil Savaşçı den berühmten Fotografen durch seine Heimatstadt begleiten. Istanbul hat sich seither in rasantem Tempo verändert; Güler blieb bis zuletzt Chronist dieses Wandels, er starb 2018 mit 90 Jahren.

Die Türkischen Filmtage erlauben sich in diesem Jahr mehr Rückblick als sonst, das Programm ist umfangreicher, schließlich gibt es einen runden Geburtstag zu feiern: drei Jahrzehnte türkische Filmkunst in München, mehr als 400 Spiel-, Dokumentar- und Kurzfilme, außerdem Lesungen, Diskussionen, Workshops. Hinter dem Festival steht der Verein Sinema-Türk Filmzentrum, der sich 1989 gründete, um den Deutschen die Vielfalt des türkischen Kinos nahezubringen. Auch deutsch-türkischen Künstlern boten und bieten die Filmtage eine Leinwand. 1997 präsentierte ein gewisser Fatih Akin seinen Kurzfilm "Getürkt". In diesem Jahr stellt der Münchner Regisseur Tuna Kaptan seinen Zwanzigminüter "Duyuyor Musun Anne?" ("Hörst du, Mutter?") vor, über eine Kurdin, die der Terrorbeihilfe angeklagt wird.

Politische Themen haben das Festival von Anfang an geprägt, viele sind heute noch aktuell. Vor allem den Umgang des Staats mit Minderheiten haben türkische Filmemacher oft verarbeitet. So stellt etwa Gürcan Keltek seinen Dokumentar-Essay "Meteorlar" ("Meteoriten") vor, der sich mit der Eskalation des Kurdenkonflikts im Jahr 2015 befasst. Keltek verbindet dokumentarische Sequenzen mit Poesie, herausgekommen ist ein grobkörniges Filmexperiment, das den Krieg als archaische Gewalt zeigt. In der Heimat wird Keltek seinen Film nicht präsentieren, eine Genehmigung würde er wohl ohnehin nicht bekommen. In München wird er im Anschluss an die Vorführung über Zensur im türkischen Kino sprechen.

Ein wiederkehrendes Motiv sind familiäre Zwänge und rigide Geschlechterrollen, unter denen vor allem, aber nicht nur viele Frauen in der Türkei zu leiden haben. "Kardeşler" ("Geschwister") erzählt von den Folgen eines sogenannten Ehrenmordes: Das Verbrechen an der Schwester liegt Jahre zurück, einer von zwei Brüdern war im Gefängnis, doch der Erinnerung können beide nicht entfliehen. Heiterer geht es in der Küche von Neslihan im Film "Sofra Sirlari" ("Serial Cook") zu, auch wenn am Ende nicht nur ihr Ehemann tot ist: Verbirgt sich hinter der freundlichen Hausfrauen-Fassade eine Serienmörderin?

Prägend für das türkische Kino war und ist auch der Stadt-Land-Gegensatz - kein Wunder in einem Land, das massive Landflucht und rasante Urbanisierung erlebt hat. "Kelebekler" ("Schmetterlinge") greift diesen Gegensatz auf: Drei Geschwister kehren in ihr Heimatdorf zurück, ihr Vater hat sie dorthin beordert. Kontakt miteinander hatten sie kaum, auch nicht zum Vater; die Gründe kommen im Lauf der Reise ans Licht. Geschickt unterwandert der Regisseur Tolga Karaçelik die Erwartungen: Bevor es allzu mythisch wird, kippt der Film ins Komische. Und bevor es zu albern wird, gewinnt die Melancholie die Oberhand. Für dieses Spiel mit den Stimmungen gewann der Film den Großen Preis der Jury beim Sundance Filmfestival. Am Ende von Kelebekler steht eine schöne Botschaft, so schlicht wie universell: Manchmal hilft nur noch ein versöhnliches Lachen.

30. Türkische Filmtage München ; Donnerstag, 21., bis Sonntag, 31. März, Gasteig, Carl-Orff-Saal (Eröffnung) und Carl-Amery-Saal, Rosenheimer Straße 5, Programm unter www.tuerkischefilmtage.de

© SZ vom 20.03.2019 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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