Kino:Jede Familie ist ein Thriller

Lesezeit: 2 min

Philippe Lioret erkundet Gefühle des Fremdseins und die Sehnsucht nach Nähe in seinem Film "Die kanadische Reise". Darin schickt er einen Mann auf eine wirklich große Fahrt.

Von Susan Vahabzadeh

Kann es passieren, dass man eines Tages aufwacht und nicht mehr dieselbe Person ist, die man vorher war? Was müsste geschehen, damit sich die Vorstellung der eigenen Identität ohne eigenes Zutun verändert? Mathieu (Pierre Deladonchamps), geschiedener Mittdreißiger in Paris, macht eine solche Erfahrung. Eines Tages ruft ein Mann aus Montreal an, und Mathieu ist plötzlich Halbkanadier - nicht mehr der einzige Sohn einer Französin, die lange nicht mehr lebt, sondern der Spross eines Mannes, der gerade in Kanada ertrunken ist, der noch weitere zwei Söhne hatte. Der Fremde am Telefon will Mathieu ein Paket zukommen lassen, sein Erbe, sozusagen. Aber Mathieu ist das Paket egal. Er ist neugierig, also macht er sich auf nach Kanada, hoffnungsvoll, dort die Familie zu finden, die er in Paris nicht hatte.

So beginnt Philippe Liorets Film "Die kanadische Reise". Lioret, der unter anderem "Keine Sorge, mir gehts gut" (2006) gedreht hat, stochert gern in Familiengeheimnissen herum. Er macht wenig große Worte, seine Filme sind lakonisch, aber voller kleiner Gesten und vorsichtiger, bedeutungsvoller Interaktion. "Die kanadische Reise" führt in fremdes Terrain, ins Quebec, und dort spricht man eigentlich eine andere Sprache, weswegen Lioret die Schauspieler die Dialoge hat improvisieren lassen - vielleicht ist das der Grund, dass sie so nuanciert sind, so authentisch wirken. Lioret verzichtet meist auf große Stars, weil er auf der Suche nach genau der einen Person ist, die in einer Rolle perfekt aufgehoben ist.

Pierre (Gabriel Arcand) empfängt Mathieu in Kanada, er stellt sich vor als alter Freund seines Vaters und nimmt ihn mit zu sich nach Hause, zu seiner Frau und seiner Tochter, die Mathieu mit offenen Armen aufnehmen. Nette Familie. Und doch macht sich bald ein bisschen Thriller-Atmosphäre breit. Pierre ist seltsam - einmal warmherzig und zutraulich, dann wieder abweisend und kalt. Erst will Pierre unbedingt verhindern, dass Mathieu seine Halbbrüder trifft, obwohl Mathieu versprochen hat, nicht zu sagen, wer er ist. Dann nimmt er ihn mit an den einsam gelegenen See, in dem der Vater ertrunken ist - er wurde nicht gefunden, die Söhne wollen die Leiche suchen. Die Halbbrüder entpuppen sich schnell als widerlich, geldgierig und aggressiv, genau die Art von Familie, auf die man eigentlich ganz gut verzichten kann. Ist es wirklich so, dass einer, der ohne die Bindungen einer Familie aufgewachsen ist, sie für immer vermissen wird?

"Die kanadische Reise" lässt den Thriller aber bald wieder hinter sich, zumindest diese bedrohliche Atmosphäre, bei der man jederzeit erwarten würde, dass sich entweder die Halbbrüder an die Gurgel gehen oder der untote Vater als lebende Wasserleiche dem See entsteigt. Die wahren Mysterien des Lebens spielen anderswo, jede Familie ist ein Thriller für sich. Lioret konzentriert sich auf Familienstrukturen, auf das Geflecht, in das sich Mathieu, der mit seinem eigenen Sohn in Paris nicht mehr unter einem Dach wohnt, unbedingt einfügen will. Es ist nur, so scheint es jedenfalls, die falsche Familie - Mathieu sucht Anschluss bei Pierre, seiner Tochter Bettina, seiner Frau Angie, ergründet nach und nach die Geheimnisse dieser Familie; das ist spannend genug. "Die kanadische Reise" wirkt ein bisschen so, als habe Lioret den Fall "Familie" auflösen wollen; im Krimi birgt die Enthüllung Schrecken; in einer Familie erzeugt sie Nähe.

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Le fils de Jean , Frankreich/Kanada 2016 - Regie: Philippe Lioret. Drehbuch: Natalie Carter, Philippe Lioret. Kamera: Philippe Guilbert. Mit: Pierre Deladonchamps, Gabriel Arcand, Catherine de Léan, Marie-Thérèse Fortin. Verleih: Temperclay, 98 Min.

© SZ vom 18.12.2017 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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