Jugendliteratur:Gebrandmarkt

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(Foto: N/A)

Die harte Geschichte des Rassismus in Amerika, den die Autoren als Ursprung von allem schwarzen Elend sehen. Eine lohnende Lektüre, bewusst polemisch und kompromisslos.

Von Michael Schmitt

"Stamped" bedeutet "gebrandmarkt" und meint alle Verletzungen, die schwarze Amerikaner im Verlauf von Jahrhunderten durch Sklaverei, Diskriminierung und Gewalt erlitten haben. Es war vor fünf Jahren der Titel einer vielgelobten Geschichte des Rassismus, die der Aktivist und Historiker Ibram X. Kendi vorgelegt hat, ein dickes und wütendes, aber sehr informatives Buch, das von der Zeit der Pilgerväter bis zur letztlich frustrierenden Bilanz der Zeit Präsidentschaft Barack Obamas führt. Dieses furiose Werk hat der Kinder- und Jugendbuchschriftsteller Jason Reynolds nun zu einem Sachbuch für junge Menschen zusammengestrichen und umformuliert - im Duktus um einiges hemdsärmeliger, inhaltlich nicht weniger vielseitig, aber eben auch genauso radikal.

Es ist ein harter Brocken und zugleich eine lohnende Lektüre, denn es verdankt viele zentrale Thesen der sogenannten Critical Race Theory, die im Rassismus weltweit das Fundament aller weißen Vorherrschaft sieht, nicht nur in Amerika, sondern etwa auch in allen anderen liberalen westlichen Demokratien. Im Kampf gegen diesen Rassismus wäre nach Ansicht der Verfechter dieser Denkrichtung allerorten ein konsequenter Umsturz nötig, weil auch alle aufklärerischen oder auf Verständigung und Assimilation zielenden Bemühungen als vom Rassismus infiziert angesehen werden - letztlich als ein weiteres Mittel zum Machterhalt der weißen Mehrheitsgesellschaft.

Diese Grundhaltung Ibram X. Kendis spürt man auch in Jason Reynold's Fassung auf jeder Seite - aber dem muss man ja nicht vorbehaltlos folgen. Der Bogen reicht von den ersten portugiesischen Eroberungen in Afrika bis zu #Black Lives Matter, die Darstellung ist geprägt vom Zorn über das herbe und aktiv propagierte rassistische Rollback unter Donald Trump. Das Buch ist bewusst polemisch und kompromisslos angelegt - von der Lektüre profitieren werden vor allem junge Menschen mit dem Willen zum Selberdenken, die auch mal bei Wikipedia nachschlagen, um Hintergründe besser zu verstehen oder auch Verkürzungen der Schilderungen zu entdecken.

"Stamped" ist durch und durch parteiisch, aber so einseitig wie diese Sicht auf die Geschichte ist, so klar sind ihre Thesen und die Fragen, die sich daran knüpfen lassen: Ist Rassismus wirklich der Ursprung von allem schwarzen Elend in Gegenwart und Geschichte? Ist Rassismus als Gesellschaftsmodell entwickelt worden, um Vorherrschaft zu untermauern - oder hat er sich aus wirtschaftlichen und gesellschaftspolitischen Strukturen erst ergeben? Wie steht es um Martin Luther Kings Traum von einer Gesellschaft, die keine Hautfarben mehr kennt, sondern nur Charakter? Oder um die Interessen schwarzer Frauen, die nicht nur gegen den Rassismus, sondern auch gegen die Macho-Allüren schwarzer Männer kämpfen? Ibram X. Kendi und seine Mitstreiter blenden viele solcher Facetten aus oder behandeln sie nur nebenbei - aber sie weisen zugleich auf manches hin, was in aktuellen, oft oberflächlich konzipierten, solidarisch gemeinten Büchern zum Thema People of Colour zu wenig Raum findet.

Man kann sich an der Radikalität von "Stamped" stören, aber wenn man parallel den kurzen, mittlerweile fast sechzig Jahre alten Brief von James Baldwin, "Mein Kerker bebte" (in "Nach der Flut das Feuer", dtv 2019) liest, dann versteht man, was sich seither, etwa bis zum Tod von George Floyd, nicht zum Besseren verändert hat, warum so viel Wut eine durchaus nachvollziehbare Antwort auf fortdauernde Benachteiligungen ist.

Jason Reynolds und Ibram X. Kendi: Stamped. Rassismus und Antirassismus in Amerika. Aus dem Englischen von Anja Hansen-Schmidt und Heike Schlatterer. dtv Reihe Hanser, 2021. 256 Seiten, 17 Euro.

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