"Gespräch über Kunst und Politik":Konfrontation mit der Wirklichkeit

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Mehr Überwachung - hier eine Kamera-Palme in der Nähe des Kölner Doms - für noch mehr Sicherheit? Das kann nicht die Lösung sein, meinen Ken Loach und Édouard Louis. (Foto: Christoph Hardt/Imago/Future)

Unterhalten sich zwei der bekanntesten Künstler Europas über Politik: Ken Loachs und Édouard Louis' Gespräch, auch zum Kampf gegen Rechtspopulismus, kann man jetzt nachlesen.

Von Felix Stephan

Im Jahr 2019 lud der Sender Al-Jazeera den schottischen Filmregisseur Ken Loach und den französischen Schriftsteller Édouard Louis gemeinsam zu einer Unterhaltung, die jetzt unter dem Titel "Gespräch über Kunst und Politik" erschienen ist. Das ist insofern nicht ganz unerheblich, als die politischen und kunstpolitischen Bestandsaufnahmen, die sie ihrer Kunst jeweils zugrunde legen, sich seither eher verschärft haben und das Gespräch in diesem Sinne keinen Tag gealtert ist.

In ihrem künstlerischen Ansatz sind sich beide sehr ähnlich, was dazu führt, dass sie einander vor allem recht geben. Die armen Schichten in Frankreich und Großbritannien würden durch die Leistungsideologie, laut der jeder es schaffen könne, der sich nur ausreichend anstrenge, so beschämt, dass sie sich vom politischen Raum abwenden. Sie wählten rechts, weil die linken Parteien ihre Sprache nicht mehr verstünden. Und sie seien einer politischen Gewalt ausgesetzt, die sie untereinander weitertrügen. Das erkläre ihren rohen Umgang untereinander, der sie in den Augen der besitzenden Klassen wiederum als Barbaren dastehen lasse, die der Zivilisierung bedürften.

Die Sprache wird im Klassenkampf selbst zum Akteur

Diese Gewalt, sei ein Phänomen, das Ken Loach in seinen Filmen sichtbar mache, findet Édouard Louis, "nämlich wenn Leute unter schwierigen gewalthaften gesellschaftlichen Bedingungen leben, wenn sie einer Form gesellschaftlicher Gewalt ausgesetzt sind, die unablässig auf sie einwirkt, dann entwickeln sie häufig - nicht automatisch, aber häufig - selbst eine Form von Gewalt, oder zumindest Aggression den anderen gegenüber".

Diese Gewalt äußere sich nicht nur in steuer- und sozialpolitischen Entscheidungen, sondern auch in diskursiven Konstellationen. Louis zieht Bourdieu heran: Auf der einen Seite gebe es die "reaktionäre, rechte Perspektive" auf die Armen, in der diese als gefährlich, aggressiv und faul dastehen. Auf der anderen einen "angeblich linken Blick, mit dem die Armen als authentisch, lebensfroh und zutiefst gutmütig und großzügig gesehen werden".

Seit 2014 sein Roman "Das Ende von Eddy" erschien, ist Édouard Louis die profilierteste Stimme des europäischen Class Writing. (Foto: IMAGO/TT)

Diese beiden scheinbar entgegengesetzten Perspektiven seien das, was Pierre Bourdieu als "Gegner und Komplizen" bezeichnete: "Sie tun so, als wären sie gegeneinander gerichtet, in Wirklichkeit aber bilden sie eine einzige geschlossene Denkstruktur." Diese Denkstruktur beraubt die Beherrschten der Möglichkeit, sich als souveränes Subjekt selbst zu entwerfen, es handele sich, so Louis, um eine "verlängerte, perpetuierte Gewalt, sie hat ihren Ursprung in der Klassengewalt" und sie durchdringe alles.

Der britische Filmregisseur Ken Loach wurde durch den sozialen Realismus seiner Filme bekannt. (Foto: DANIEL LEAL-OLIVAS/AFP/AFP)

Weil diese Gewalt sprachlich verfasst ist, wird die Sprache im Klassenkampf selbst zum Akteur. Ken Loach führt den Gedanken am Beispiel des Begriffes "Sicherheit" vor. Von oben beziehe sich der Begriff auf eine Problemlage, der mit mehr Polizei, mehr Überwachung, härteren Strafen zu begegnen sei. Eine "linke Sicherheitspolitik" müsse jedoch darin bestehen, den Sozialstaat auszubauen und die Rechte von Minderheiten zu beschützen, schließlich werde das Sicherheitsempfinden der unteren Schichten in erster Linie von Armut und Ausgrenzung beeinträchtigt, da helfen längere Haftstrafen auch nicht weiter.

Wenn die Leute sich sicher fühlen, werden sie tolerant

Loach: "Die Vorstellung, die Welt wäre gefährlich und man müsste Räume schaffen, in denen die Leute sich in Sicherheit fühlen, diese Vorstellung ist eine Sackgasse. Sämtliche Räume müssten Sicherheit bieten." Darin liege übrigens auch der Schlüssel zur Bekämpfung des Rechtspopulismus: Wenn die Leute sich sicher fühlten, würden sie tolerant.

Der Preis dieser politischen Zweckbindung von Sprache besteht jedoch darin, dass es auch für die Literatur keinen Ort außerhalb dieses Ringens der Schichten geben kann. Sie steht immer entweder auf der Seite der Herrscher oder der Beherrschten. Wenn sie behauptet, unpolitisch zu sein, verschleiert sie in dieser Rechnung nur ihre Komplizenschaft. Die Progressiven müssten sich, so Louis, "von den naiven Diskursen über die Kultur befreien, ,die uns vereint', die uns ,die Augen öffnet', die uns ,wachsen lässt' usw." Stattdessen gilt auch hier Brechts Katharsis-Begriff: Die Kunst müsse die Welt in all ihrer Unerträglichkeit zeigen und das Publikum mit der Wirklichkeit konfrontieren, das sonst unter "staatlichen Lügen, Ideologien, Populismen" begraben liege.

Eine echte Meinungsverschiedenheit zwischen den beiden deutet sich nur einmal an, dafür an bezeichnender Stelle: Ken Loach, Jahrgang 1936, sieht den Schlüssel zur Selbstermächtigung der besitzlosen Klassen in der Wiederherstellung traditioneller Gemeinschaften. Sein Vater sei Bergmann gewesen und dessen Vater sei Bergmann gewesen, "keine Arbeit, die man seinen Kindern wünscht... aber sie haben fantastische Gemeinschaften geschaffen!" Margaret Thatcher habe gezielt deren Auflösung betrieben, weil sie ihre politische Schlagkraft gefürchtet habe.

Davon möchte Édouard Louis, Jahrgang 1992, bitte nichts hören: "Wie hat wohl ein queeres Kind sein Aufwachsen in diesen Gemeinschaften von Bergleuten erlebt, von denen du sprichst?" Für Frauen und Minderheiten bedeuteten diese Gemeinschaften, mit denen implizit stets heteronormative, männliche Gemeinschaften gemeint seien, in erster Linie Unterdrückung. Er wolle als Individuum das Recht haben, seine Gemeinschaft zu verlassen, so Louis.

In seinen Romanen geht es nicht zuletzt darum, dass mit diesem Milieuwechsel immer auch eine Entfremdung von der eigenen Herkunft einhergeht. Der Aufsteiger findet sich plötzlich auf der anderen Seite wieder. Gegenüber Ken Loach formuliert er das Problem so: "Wenn ein Arbeiter zu mir sagt: ,Aber ich will doch in der Fabrik weiterarbeiten', kann ich ihm dann antworten: ,Nicht doch, die Fabrik bedeutet Entfremdung und Gewalt, das kannst du nicht wollen'? Wer soll für einen anderen entscheiden, was Gewalt ist? Es gibt keine einfachen Antworten."

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