Münchner Kammerspiele:Zusammen allein

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Eingekastelt im Spiegelkabinett (von links): Jochen Noch, Svetlana Belesova, Bernardo Arias Porras und Katharina Bach im biografischen Traumspiel. (Foto: Heinz Holzmann/Kammerspiele)

Thomas Mann und seine Kinder: Die Münchner Kammerspiele zeigen "Gespenster - Erika, Klaus und der Zauberer" als ihre erste Livestreaming-Premiere.

Von Christine Dössel

Voilà, jetzt hatten auch die Münchner Kammerspiele ihre erste Livestream-Premiere. Zur Begrüßung der eingeloggten Zuschauer erschien die Intendantin Barbara Mundel persönlich auf dem Bildschirm, um das "große Experiment" feierlich anzukündigen. Ihr Team habe sich "dem Digitalen sehr angenähert", sagte die neue Kammerspiele-Chefin, der die Pandemie ihren Intendanzstart ganz schön verhagelt hat. Selbst das zuletzt angesetzte "Covivid Theatre", das Darbietungen in den Schaufenstern des Schauspielhauses bot, wurde untersagt, weil sich offenbar zu viele Menschen davor drängelten.

Nun also "Gespenster - Erika, Klaus und der Zauberer", live gestreamt aus der Therese-Giehse-Halle der Kammerspiele. Eine Produktion des Kollektivs Raum+Zeit, bestehend aus der Dramaturgin Juliane Hendes, dem Autor Lothar Kittstein, dem Regisseur Bernhard Mikeska und der Bühnenbildnerin Steffi Wurster. In ihren Inszenierungen behaupten sie ein flirrendes Raum-Zeit-Kontinuum, suchen nach Kausalbeziehungen zwischen Vergangenem und Gegenwart, der Gleichzeitigkeit von Erinnertem und sich Ereignendem. In diesem Fall ist es, als lokaler Spielplan-Tribut an die Stadt München, eine digital-theatrale Umkreisung der schillernden Geschwister Klaus und Erika Mann und deren Vater Thomas, des weltberühmten Schriftstellers, innerfamiliär "der Zauberer" genannt.

Fast die Hälfte seines Lebens verbrachte Thomas Mann in München, wo im November 1905 als erstes von sechs Kindern Erika geboren wurde und ein Jahr später deren Lieblingsbruder Klaus, zu dem sie ein legendär inniges, symbiotisches, libidinöses Verhältnis hatte. Die beiden traten wie Zwillinge auf und galten auch später auf ihren Weltreisen als "twins". Zwei Geschwister, die sich lieben, dies aber nicht dürfen - just darum geht es auch in dem weithin vergessenen Stück "Geschwister" von Klaus Mann, das 1930 an den Münchner Kammerspielen uraufgeführt wurde. Ein Riesen-Misserfolg, obwohl die große Therese Giehse mitgespielt hat. Mit der hatte Erika Mann mal ein Verhältnis ("die fiese Giehse").

Vier Schauspieler spielen simultan zwei Stränge. Technik und Timing sind perfekt - trotzdem ist der Abend kein Aufreger

All das kommt vor in dem Raum und Zeit sprengenden Traumspiel "Gespenster" und noch viel mehr: Thomas Mann, der 1911 mit seiner Familie nach Venedig reist und noch im selben Jahr seine berühmte Novelle "Der Tod in Venedig" schreibt, welche wiederum Luchino Visconti 1969 verfilmt. Klaus, der sich 1949 in einer Pension in Cannes das Leben nimmt. Erika, die ihren geliebten Bruder um zwanzig Jahre überlebt, vom libertären Schmetterling zur strengen "Tochter-Adjutantin" und Nachlassverwalterin ihres Vaters verwandelt. Sie stirbt 1969 im Kilchberger Elternhaus am Zürichsee, 63 Jahre alt.

Die verbitterte Erika im Sommer '69, so beginnt der Abend - zumindest für jene Zuschauer, die sich beim Online-Check-in für "Tribüne A" entscheiden. Diejenigen, die "Tribüne B" gewählt haben, erleben die Inszenierung aus einer anderen (Zeit-)Perspektive: Da beginnt das Stück mit den Szenen in Venedig, so will es das ablauftechnisch raffiniert ausgeklügelte Regiekonzept von Bernhard Mikeska, in dem vier Schauspieler simultan zwei Stränge spielen. Was mittels genau regulierter Mikroport-Übertragung und staunenswertem Timing perfekt gelingt.

Erika in ihrem Kasten, gespielt von der einnehmenden Svetlana Belesova. (Foto: Heinz Holzmann/Kammerspiele)

Auf nachtblauer Bühne vier Glasquader, in jedem ein Mensch, eingekapselt in seinem Kasten, seiner Blase. In Covid-Zeiten kein befremdlicher Anblick. Von fünf Live-Kameramännern gefilmt, umkreist, heran- oder weggezoomt, miteinander in Dialog gebracht und dann wieder (auch visuell) getrennt, erzählen die vier im Laufe des achtzigminütigen Abends eine verschachtelte, vielfach verwobene Geschichte, der optisch die Spiegelungen und Brechungen im gläsernen Setting entsprechen. Das ist zunächst faszinierend und erzeugt eine Art Psycho-Tunnelblick. Den soghaften Eindruck verstärkt ein suggestiver Sound mit geradezu filmdramatischen Effekten (Knut Jensen), weshalb die Kammerspiele für die Aufführung Kopfhörer empfehlen.

Biografien erscheinen als Vexierspiel

Da haben wir also Erika in ihrem Kasten, sehr ruhig und bestimmt gespielt von der einnehmenden Svetlana Belesova. Eine Frau in weißer Strickweste, die sich mit Kippe in der Hand an die Glasscheibe drückt, als laufe draußen noch einmal ihr aufregendes Leben ab, ihre wilden Jahre als Schauspielerin, Schriftstellerin, Journalistin, Weltenbummlerin. Ihr polyglottes Wesen bricht sich in englischen Floskeln und Flüchen Bahn, die Haare trägt sie statt auf dem Kopf auf den Zähnen. Im Clinch mit ihrem jungen Alter Ego wird sie zur keifenden Zicke. Sie bekommt nämlich Besuch von einem jungen Geschwisterpaar, gespielt von der lockend koketten Katharina Bach (mit Erika-Mann-Kurzhaarfrisur) und dem lasziven Zausel Bernardo Arias Porras im Hippie-Look. Die beiden reisen angeblich aus Cannes an und wollen Klaus Manns "Geschwister"-Stück verfilmen, und schon sind wir mittendrin in der verwirrendsten Verzahnung von Figuren, Fakten und Fiktion, von Leben und Traum. Biografie - ein Vexierspiel.

Im zweiten Strang des Abends, nachdem die Glaskästen sich im zuckenden Blitzlichtgewitter öfters gedreht und immer neue Einblicke gewährt haben, steht der "Zauberer" im Mittelpunkt, der Übervater Thomas Mann, von Jochen Noch gespielt als gönnerhafter Grandseigneur mit Fliege, Dreireiher, Wohlstandsbauch. Ein Unsympath. Geschwollen daherredend, legt er sich die Sprache als Schutzhaut über seine brodelnden Gelüste. Das grenzt bisweilen ans Parodistische.

Die familiäre Missbrauchsgeschichte, die da angedeutet wird, hat etwas Degoutantes

Der homophile Herr Mann ist in Venedig, oder vielleicht ist es auch seine literarische Figur Gustav von Aschenbach, die hier in Venedig ist und den verführerisch sich in seinem Schaufenster räkelnden Bernardo Arias Porras anschmachtet. Wobei dieser als Objekt der Begierde nicht nur an den Knaben Tadzio gemahnt, er ist ganz eindeutig auch ein Stricher und vermutlich auch Manns schwuler Sohn Klaus. Als "Aschenbach, Kunde, padre" spricht er den Alten an, um später explizit als Sohn zu sprechen: "Du kamst in mein Zimmer, entblößt ... fantastisch nackt." Die familiäre Missbrauchsgeschichte, die hier im Geklitter von Fakten und Fiktion, Zoten und Zitaten angedeutet wird, hat etwas Degoutantes; so wie dieser ganze Venedig-Strang mit seiner Anlage zwischen Text-Kolportage, Erotik-Schwulst und Hightech-Pathos einen zweifelhaften Geschmack erzeugt. Auch die Rolle, die die zweifache Erika hier spielt, ist zumindest fragwürdig: Papas Sekretärin, Verwalterin - und Lustknaben-Beschafferin? Oder haben wir da von unserer virtuellen "Tribüne A" aus etwas falsch verstanden?

Nein, der Abend hat nicht das Zeug zum Aufreger. Eher langweilt er mit zunehmender Gewöhnung an seine technische Verve. Was anfangs als so kunstvoll erscheint, wirkt zunehmend artsy-fartsy, wie Erika Mann wohl sagen würde, verkünstelt. Sie und die Ihren gehen einem nicht nahe, sie kommen einem nur nahe, kamerabedingt.

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