"Miami Punk" von Juan S. Guse:Zerstören und verwalten, zerstören und verwalten

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Nerd-Kultur? Iwo! "Miami Punk" ist eine Gesellschaftsanalyse. (Foto: Oliver Berg/dpa)

Der Roman "Miami Punk" erinnert an David Foster Wallace' "Unendlicher Spaß" - nur mit Computerspielen. Im Zentrum: eine Gesellschaft, die ihre Bürger in digitale Räume treibt.

Von Felix Stephan

Das Literaturarchiv Marbach hat gerade bekannt gegeben, ab sofort auch Computerspiele sammeln zu wollen, weil es sich eben auch dabei um erzählerische Formen handele. Und wenn man die Zeit, die heute mit Computerspielen verbracht wird, mit jener vergleichen würde, in der literarische Texte gelesen werden, dann käme man mit einiger Wahrscheinlichkeit auf ein Ergebnis, das man sich auch vorher hätte denken können. Andererseits ist es auch heute immer noch so, dass diese Erzählform noch keinen Ingmar Bergman hervorgebracht hat, keinen Luis Buñuel und auch keinen Siegfried Kracauer.

Deshalb kommt es in gewisser Weise wie gerufen, dass jetzt ein Roman erschienen ist, der das Schreiben und Nachdenken über diese Form um ungefähr ein Jahrzehnt nach vorn katapultiert. Der Roman heißt "Miami Punk", stammt von dem gerade einmal 30-jährigen Hannoveraner Schriftsteller und Soziologen Juan S. Guse, und er macht mit dem Computerspiel ungefähr das, was David Foster Wallace' "Unendlicher Spaß" mit der Tennisakademie gemacht hat: Er verwandelt einen Gegenstand, der 2000 Jahre lang in der Literatur nicht nennenswert beschrieben wurde, in ein Motiv, das dereinst aus der Literatur nicht mehr wegzudenken gewesen sein wird.

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Der Roman spielt ungefähr in unserer Gegenwart, hat sich von José Saramago aber den Trick abgeschaut, ein einziges Detail an der Wirklichkeit zu ändern, und dann zu schauen, wie sich die Dinge entwickeln: Bei Saramago erblinden die Bewohner einer Stadt ohne erkennbaren Grund, bei Guse hat sich der Atlantik vor der Küste Miamis über Nacht 500 Kilometer weit zurückgezogen und eine riesige, unwirtliche Wüste hinterlassen, für deren Überwachung wie aus alter Gewohnheit allerdings immer noch die Küstenwache zuständig ist. Mit dem Atlantik ist auch die Wirtschaft Miamis verschwunden. Die Werbeindustrie und der Tourismus haben keinen Strand mehr, der Hafen liegt brach, wer kann, ist längst in den Norden gezogen, nach Alabama oder Louisiana.

Der Roman eröffnet mit einer majestätischen Totalen und zoomt dann in das Zimmer seiner Hauptfigur Robin, die an ihrem Computer sitzt und mit einer fremden Person irgendwo auf dem Planeten eine Runde "Age of Empires 2" spielt, die sie überraschend verliert. Robin ist eine Programmiererin, die ihr Geld in der IT-Abteilung eines unüberschaubaren Life-Sciences-Konzerns namens "Nowak" verdient und in ihrer Freizeit Avantgarde-Spiele programmiert, die sie kostenlos ins Netz stellt.

Eines ihrer Spiele heißt zum Beispiel "Zerstören und Verwalten", ein Spiel, "in dem man als US-amerikanischer Kampfflieger gegen sowjetische Jets den ressourcenreichen Nordpol verteidigte und bei dem nach dem Abschluss der letzten Mission das Spiel nicht endet, sondern stattdessen ein menübasiertes Managerspiel beginnt, das in einer Verwaltungsabteilung der Air Force in Nevada spielt, die den im ersten Teil des Spiels verursachten Versicherungsschaden zu dokumentieren und andere bürokratische Aufgaben zu erledigen hat, zum Beispiel Kondolenzschreiben für die Angehörigen von gefallenen Pilotinnen aufsetzen sowie den nächsten bevorstehenden Einsatz der Nordpol-Staffel vorbereiten; und sobald man mit dieser unfassbar langweiligen Aufgabe fertig war, schlüpfte man wiederum in die Rolle des Piloten, um genau diesen vorbereiteten Einsatz zu fliegen, bei dem es sich aber natürlich um nichts anderes als wieder um den ersten Teil des Spiels handelte, sodass man sich in einem Zyklus gefangen sah, der sich bis in die Ewigkeit wiederholen würde: zerstören und verwalten, zerstören und verwalten".

Ihr Erweckungserlebnis hatte Robin, als sie als Kind einen Flugsimulator spielte und dabei auf die Idee kam, ihr Flugzeug immer weiter nach oben zu ziehen, um herauszufinden, wo die digitale Welt ihr Ende findet, wobei sie feststellte, dass die Programmierer oben keine Decke eingezogen hatten und sie mit ihrem Verkehrsflugzeug immer weiter nach oben fliegen konnte, bis in die Unendlichkeit. In diesem Moment verstand das Kind, dass es in der digitalen Welt eine Grenzenlosigkeit zu entdecken gab, die in der engen Wirklichkeit eher nicht zu haben war, und in gewisser Weise zieht sich dieses Verhältnis durch den ganzen Roman: Während die Wirklichkeit von Oligarchie, inhumanen Sicherheitsarchitekturen und gläserner Konzernödnis geprägt ist, findet sich in Computerspielen Grenzenlosigkeit und Transzendenz.

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Zurzeit arbeitet Robin an ihrem Opus magnum, einem Spiel, das denselben Namen trägt wie Pierre Bourdieus berühmte Untersuchung der Pariser Banlieues, "Das Elend der Welt". Wie Bertolt Brechts episches Theater wollen diese Spiele den Schrecken des Realen nicht durch Unterhaltung erträglich machen, sondern ihn im Gegenteil intensivieren, um unerträglich werden zu lassen, woran man sich schon längst gewöhnt hat. Und in gewisser Weise beschreibt sich in diesen Spielen der Roman selbst.

Die zweite Hauptfigur ist ein Literaturwissenschaftler, der in Wuppertal an seiner Habilitation arbeitet und nach Miami gekommen ist, um ein letztes Mal an einem Counter-Strike-Turnier teilzunehmen. Ungefähr ein Viertel des Romans handelt von diesem Turnier, das Eröffnungsmatch wird minutiös geschildert, wir erfahren alles über die Teams, die wichtigsten Eröffnungen und Verteidigungsstrategien, nicht zuletzt die Ideengeschichte von Counter Strike, die von internationalen Kulturtheoretikern in langen Essays ausgehandelt wird, die in abseitigen Zeitschriften erscheinen.

"Miami Punk" ist multiperspektivisches Literatur-Großprojekt, in dem alle fünf Seiten die Textform und der Erzähler wechseln, in dem sich Vernehmungsprotokolle auf Reiseberichte auf Kindererzählungen auf feierliche Ansprachen stapeln, sodass es sich beim Lesen anfühlt, als wühlte man sich durch ein Verzeichnis deutscher Gegenwartsidiome oder durch eine Dokumentensammlung, die nach einem Erdbeben aus den Trümmern der Stadt geborgen wurde.

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Und ja, natürlich kann man aus der Ferne leicht die Frage stellen, warum um Himmels willen man das alles lesen soll. Und sicher kann man dem Roman auch seinen Hang zum Universitären vorwerfen, die Ausführlichkeit, mit der hier fiktive Dissertationen zitiert werden, dass sich ganze Passagen lesen wie soziologische Studien, seine manische Alleserzähleritis. Aber immer wenn man denkt, dass man statt dieses Romans auch gleich direkt Pierre Bourdieu oder Thomas Luckmann lesen könnte, tauchen auf einmal Momente auf, die genuin poetisch sind, auch weil sie es ablehnen, über den indiskutablen Umstand einfach hinwegzusehen, dass es Schmerz und Erniedrigung gibt.

Die irrwitzig lange Passage zum Beispiel, in der ein Arbeitstag eines Hausmeisters ausgebreitet wird, obwohl der in erster Linie darin besteht, Korridore entlangzulaufen, und die so bestürzend langweilig ist, dass es kaum auszuhalten ist. Oder die Szene, in der die kleine Robin das Scheidungsgespräch ihrer Eltern im Nebenzimmer verfolgt, und vollkommen klar ist, dass sie sich von diesem kalten Horror nie erholen wird.

Juan S. Guse: Miami Punk. Roman. S. Fischer Verlag, Frankfurt am Main 2019. 640 Seiten, 26 Euro. (Foto: N/A)

Es wäre jedenfalls ein Irrtum, dieses Buch in die Nerd-Kultur abzuschieben, selbst wenn diese mit ihren allgegenwärtigen Fantasy- und Comic-Verfilmungen und ihren stadionfüllenden Computerspielturnieren die globale Popkultur längst ersetzt hat. "Miami Punk" ist in erster Linie ein Gesellschaftsroman über das 21. Jahrhundert, und er erzählt von einer Gesellschaft, die so trostlos ist, dass den Figuren gar nichts anderes übrig bleibt, als in digitale Räume zu flüchten.

Miami ist hier nur noch als Schwundstufe einer westlichen, demokratischen Metropole vorhanden. Private Milizen regeln die Exekutive, der Staat tritt aus Hilflosigkeit martialisch auf, die Wirtschaft beschränkt sich auf eine Handvoll Mischkonzerne und einen letzten, gigantischen Pizzalieferdienst, der alle Einwohner dieser Stadt, die keinen warmen Platz im Büro ergattert haben, zu scheinselbständigen Lieferanten degradiert. Die Hoffnungslosen brechen lebensmüde in die Wüste auf, um in dem unbesiedelten Gebirge dahinter, das einmal ein Riff gewesen ist, ein neues Leben zu beginnen. In den Armenvierteln blühen Esoterik und metaphysische Heilslehren, während die Melancholiker in den hinteren Reihen fragen: "Kann befreien, wer selbst unterworfen ist?"

Vermutlich liegt man nicht ganz falsch, wenn man dieses Miami als Guses Zustandsbeschreibung unserer Gegenwart versteht. Von Saramago, der die Welt als Hölle verstand, in der Millionen geboren werden, um zu leiden, ohne dass es jemanden kümmern würde, hat Guse nicht nur das fantastische Erzählverfahren, sondern auch den Zivilisationspessimismus: "Grundsätzlich sind diese Leute ja", heißt es an einer Stelle, "davon überzeugt, dass das Leben im Westen leer und einsam ist, dass die Gesellschaft von innen verrottet, dass es keine Solidarität gibt und alles nur zusammengehalten wird von Dingen, die uns davon abhalten, unserem Leben Sinn zu geben."

© SZ vom 19.03.2019 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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