Die Gesten der Mächtigen leben von ihrem Wiedererkennungswert, ihrem Verführungspotenzial. Der raumgreifende Schritt, die breitbeinige Pose am Rednerpult, der erhobene Zeigefinger, das öffentliche Gebet, das besitzergreifende Händeschütteln vor den Kameras: Alles bekannt, alles Klassiker. Aber was passiert, wenn diese Gesten so gezeigt werden, dass sie neben Stärke gleichzeitig Schwäche signalisieren, dass ein Ja für ein Nein stehen kann und mit dem Offensichtlichen zugleich dessen Gegenschnitt und Kehrseite aufscheint?
Dann, meint Isaac Chong Wai, scheint die Mechanik öffentlicher Machtergreifung durch. Für den Performance-Künstler, der aus Hongkong stammt und derzeit in Istanbul arbeitet, wird mittels und durch diese Politikergesten sichtbar, wie sich die einen über die anderen erheben. Zwei Männer und drei Frauen, ineinander gewunden wie die Leidenden der Laokoon-Gruppe, eine Art von Gruppenkreuzigung, eine zerschlissene Flagge, ein als Käfig geformtes Rednerpult, in der Gruppe gerufene Parolen: Chongs Performance in diesen Tagen in Istanbul zeigt die Mechanismen öffentlich betriebener Politik und der Machtergreifung durch den öffentlichen Auftritt. Diese Gesten und Haltungen ähneln sich weltweit, sie werden überall verstanden.
Das ist es, was Chong zeigen will, und was er gleichzeitig infrage stellt: Es muss doch eine Welt geben können ohne Anführer, ohne personalisierte Macht. Eine Gesellschaft, in der nicht automatisch die das letzte Wort haben, die sich für immer über die anderen stellen, wenn sie erst einmal oben angekommen sind, ob als Person oder als Partei. Eine Welt, in der keiner mehr über allen anderen thront und eben dies zum Erfolgsrezept wird: Die führerlosen Regenschirm-Demonstrationen in Hongkong, die zivilgesellschaftlich vernetzten Gezi-Proteste in Istanbul und was sonst noch und wo auch immer: Wenn alle zu Führern werden, gibt es keinen Führer mehr, keine Helden - und auch keine Diktatoren.
Chongs Performance ist nicht an einen Ort gebunden, sondern gilt für die Machtzustände auf der ganzen Welt
Kunst als Fortsetzung der Politik mit anderen Mitteln also. Nun werden sich die real existierenden Machtverhältnisse durch eine gelungene Performance kaum ändern, bleibt die Idee der Machtübernahme durch eine "Partei der Künstler" eine Utopie, auch wenn sie die Mittel und Methoden der Mächtigen mit den Mitteln der Ästhetik treffend analysiert, entlarvt. Schon der Name der Performance: "Leaderless", ohne Führer. Oft gehört, stets gescheitert.
Aber eine Idee ist ja nicht nur dann reizvoll, wenn sie den öden Realitätstest besteht. Eine gerechte, vielleicht menschengerechtere Ordnung als künstlerisch zur Schau gestelltes Gedankenspiel: In Zeiten, in denen die globale Hammelherde immer lauter nach neuen Leithammeln blökt, macht allein das schon die Arbeit von Chong interessant. Was sie noch reizvoller macht: dass er aus Hongkong stammt, wo eine führerlose Bewegung einen allmächtigen Staat einigermaßen erfolgreich herausgefordert hat. Und dann zeigt er seine Performance auch noch in der Türkei, wo der seit fast 20 Jahren oben stehende Mann unbestreitbar einer ist, der die verführerischen Gesten und die knüppelharten Instrumente der Macht bestens und in Kombination beherrscht.
Chong versteht sich als Künstler mit viel Politik im Sinn
Spannend ist das nicht nur, weil das Angebot an öffentlich ausgetragener Kunst in den Zeiten von Corona auch in Istanbul mau ist. Die Performance von Chong ist nicht an den Ort gebunden, sie übt keine exklusive Kritik an den Zuständen in diesem oder jenem bestimmten Land, - sprich der Türkei. Sie stellt infrage, was überall auf der Welt funktionsgleich ist und durch die Bilderflut des Internets noch schneller vermittelt wird: der menschliche Wunsch und Wille zur Macht.
Chong, der in Weimar studiert hat, in Berlin lebt und nun für einige Monate Stipendiat der deutschen Kulturakademie Tarabya in Istanbul war, sieht sich weder als Aktivist noch als politischer Künstler im Sinn des Agitprop - er ist einfach ein Künstler mit Politik im Sinn. Er hat aus einem stillgelegten deutschen Gefängnis den Gitterdraht herausgeschnitten, ein Boot daraus gebaut und es in eben diesem Gefängnis ausgestellt. Er hat sich in Berlin vor den Einschussnarben, die der Zweite Weltkrieg an den Fassaden hinterlassen hat, fotografieren lassen, die "Wunder der Erinnerung" mit Glasfiber ausgegossen. In Weimar hat er unbekannte Menschen öffentlich ihre Geschichten erzählen lassen auf einem Platz, der einst den Nazis für ihre Propaganda-Gottesdienste diente.
Er hat die persönliche Geschichte von zwei schwulen Männern erzählt, die bei ihrem ersten Date das Konzentrationslager Buchenwald besuchen und sich dort küssen: In einem Nazi-Lager, in das neben politischen Häftlingen auch Homosexuelle eingesperrt wurden. Einer der beiden schrieb danach in einem Brief: "Ich hatte die Hoffnung in die Menschen verloren. Dann habe ich menschliche Nähe an dem Ort gefunden, an dem ich sie am allerwenigsten erwartete. Da wusste ich, dass es Hoffnung gibt."
Chong hat diesen kleinen Text als Thema 2014 dann ausgerechnet in Moskau vorgestellt. Dort haben Regierung und Kirche die Parole ausgegeben, dass Homosexualität mit dem "Wesen Russlands" unvereinbar sei - von da aus ist es vielleicht auch nicht mehr so weit bis ins nächste Straflager. Und in einer Stadt wie Istanbul, in der die Polizei in martialischem Aufzug und mit Panzerwagen an jeder wichtigen Straßenecke steht, kann eine kleine Performance, an der wegen Corona keine zwei Dutzend Zuschauer teilnehmen, dann möglicherweise auch nicht viel bewegen. Hoffnung machen kann sie aber schon.