Interview mit Nicolette Krebitz:"Wir versuchen ständig, Gefahr zu kontrollieren"

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Eine Frau bricht aus: Lilith Stangenberg in "Wild". (Foto: Heimatfilm)

Eine Frau, ein Wolf und der Ausbruch aus der Zivilisation. Die Regisseurin Nicolette Krebitz hat mit "Wild" ein radikal weibliches Drama gedreht.

Interview von Bernhard Blöchl

"Wild" ist ein verstörender Film, ein radikales und weibliches Drama, wie man es selten sieht im Kino: Die Außenseiterin Ania (Lilith Stangenberg) begegnet im Park einem Wolf und ist davon so fasziniert, dass sie das Tier einfängt und in ihrer Wohnung hält. Stück für Stück erfüllt sie sich die tief verankerte Sehnsucht nach persönlicher Befreiung. Die Autorin und Regisseurin Nicolette Krebitz, geboren 1972 in Berlin, überschreitet mit ihrem Film Grenzen, ihr Stoff ist ein Ausbruch, ein Vorschlag zum anderen Leben - und zum anderen Kino.

SZ: Die Uridee zu Ihrem Film war das Tier im Menschen und die Beziehung des Menschen zum Tier. Woher kommt Ihre konkrete Faszination für Wölfe?

Nicolette Krebitz: Ich habe geträumt, verfolgt zu werden, und dieser Traum kam öfter. Irgendwann habe ich es geschafft, mich in dem Traum umzudrehen, und da stand dann ein Wolf. Das hat mich genauso überrascht wie Ania im Film, weil ich vorher keine Beziehung zu Wölfen hatte. Gleichzeitig häuften sich diese Nachrichten über Wölfe, die nach Deutschland kamen. Das fand ich schon ein interessantes Bild: An der Grenze zu Polen, wo die ersten Tiere auftauchten, dort, wo die Menschen weggehen und die Zivilisation verschwindet, kehrt das Wilde zurück. Dieses Bild auf das Innenleben eines Einzelnen bezogen, das war der Ausgangspunkt für die Geschichte.

Ein Kernthema ist die heimliche Aufkündigung von Ania mit der Zivilisation und den westlichen Werten. Steckt darin auch der Wunsch nach einer neuen Gesellschaftsform, die man nicht genau benennen kann?

Ja, der Film ist auf jeden Fall ein Vorschlag. Er wendet sich ab, von dem, was die ganze Zeit erzählt wird, was angeblich wichtig ist, und schaut nach vorn, wo es auch anders sein kann.

"Wenn ich einen lustigen Film geschrieben hätte, wäre das sicherlich schneller gegangen." Die Regisseurin Nicolette Krebitz über ihren Film "Wild". (Foto: dpa)

Was wird einem als wichtig verkauft?

Der Körper zum Beispiel wird die ganze Zeit verteidigt und in Sicherheit gebracht, er wird auf ein immer längeres Leben hin getrimmt. Nicht mehr rauchen, nicht mehr trinken, man soll auf sich achten. Gleichzeitig entfernen wir uns ja immer weiter von unserem Körper und der wirklichen Nähe. Das hat mich interessiert.

Das neue Leben von Ania birgt Risiken in sich, sie ist permanent der Gefahr ausgesetzt, verlässt die Sicherheitszone.

Sich in Gefahr zu bringen, etwas zu riskieren, ist natürlich nur dann interessant, wenn auf der anderen Seite etwas ist, das man unbedingt haben will. Wir versuchen die ganze Zeit Gefahr unter Kontrolle zu bringen, und deswegen ist nichts los.

Sie haben den Dreh sehr genau vorbereitet, haben Skizzen angefertigt, mit einem Tiertrainer und zwei Wölfen gearbeitet. Gab es dennoch unerwartete Schwierigkeiten?

Es gibt Fehler, die passieren. Zum Beispiel bei der Frühstückszene in der Küche, wo der Wolf vom Rührei etwas abbekommt, da hat er ein bisschen zu viel davon gegessen. Wir wussten nicht, dass ihm ausgerechnet das so schmeckt. Aber er hat so viel Rührei verschlungen, dass die Szene, die wir danach drehen wollten, nicht mehr ging, weil er satt war, sich auf den Boden gelegt hat und eingeschlafen ist. Ansonsten waren die unberechenbaren Dinge die Geschenke im Film. Man kann ja nicht vorhersehen und auch nicht schreiben, wie der Wolf sich genau bewegt in einer Szene. Das waren die tollen Sachen, die passiert sind.

Gab es Bedenken vom Tierschutz?

Wir haben alle Vorgaben eingehalten. Man dreht nicht länger als drei Stunden pro Tag mit so einem Tier. Das ist alles so strikt und kontrolliert. Ich glaube, der Wolf hatte die beste Zeit von uns allen.

Im Gegensatz zu Filmen wie "Life of Pi" wollten Sie keine Trickeffekte, sondern den wirklichen Kontakt von Fell und Haut. Sind tatsächlich alle Wolfszenen real gefilmt?

Ja.

Auch Anias Sextraum, in dem sie nackt ist und blutet und der Wolf ihrer Spur folgt?

Es gibt kein CGI und es gibt keinen Hund oder so, das war immer ein Wolf. Es gibt noch einen zweiten Wolf, den wir manchmal für die totaleren Szenen eingesetzt haben. Ansonsten ist alles so gewesen, wie man es sieht.

"Wild" von Nicolette Krebitz im Kino
:Wölfe kommen überallhin

Manchmal schaffen sie es sogar in den erotischen Traum einer jungen Frau. "Wild" erregte beim Sundance Filmfestival Aufsehen - aus dem deutschen Film ragt er turmhoch heraus.

Filmkritik von Tobias Kniebe

Sie sagen, es war mühsamer als gedacht, den Film auf die Beine zu stellen.

Ich habe das Buch geschrieben und dann zwei Jahre lang mit einem eigentlich fertigen Buch einen Produzenten gesucht. Wenn ich einen lustigen Film geschrieben hätte, eine romantische Komödie oder so, und dann noch zwei Stars engagiert hätte, wäre das sicherlich schneller gegangen.

Sie sehen sich als Filmemacherin mit einer weiblichen Sichtweise und einem weiblichen Erzählrhythmus. Woran machen sich die Unterschiede zu Ihren männlichen Kollegen fest? Warum betonen Sie Ihr Geschlecht in dem Zusammenhang?

Die meisten Filme werden von Männern gemacht. Frauen werden in ihnen entweder so dargestellt, wie Männer sie gerne hätten - oder eben schrecklich finden. Alle Situationen, in die Frauen in Filmen gebracht werden, haben meistens nicht viel mit ihrer eigenen Geschichte zu tun. Männliche Helden müssen irgendwas erledigen und Frauen begleiten sie dabei oder gehen ihnen auf die Nerven. Wenn eine Frau einen Film macht, in dem eine Frau die Protagonistin ist, hat sie die Chance, sie in andere Situationen zu bringen, Situationen, die etwas über sie erzählen und nicht über den Mann an ihrer Seite.

Wie bei Ihnen in "Wild".

In "Wild" ist es jetzt ja sogar so, dass der männliche Hauptdarsteller ein Wolf ist. Insofern reagiert die Frau relativ wenig im Sinne des üblichen Schemas, sie ist nicht damit beschäftigt, gegen ein ihr entgegengebrachtes Frauenbild anzutreten oder es gar zu erfüllen. Sie entwickelt ihr Handeln allein aus sich heraus. Sie muss das Verhalten des Mannes nicht spiegeln, sich nicht darauf beziehen. Dadurch erzählt der Film Unabhängigkeit und gibt nicht nur vor, es zu tun. Aus feministischer Sicht lasse ich mich zwar ungern so gendertechnisch zuordnen, weil ich der Biologie genauso schnell widersprechen kann. Aber allein aufgrund der Tatsache, dass es viel mehr Filme von Männern gibt, ist ein Film von einer Frau, in dem es nicht um Männer geht, klar zu unterscheiden und deshalb als weiblich zu definieren.

Der Film ist eine Unabhängigkeitserklärung. Gilt das auch für Sie als Filmemacherin? Sie sind ja nicht gerade für gefällige Stoffe bekannt.

Ich denke nicht in solchen Kategorien, wenn ich mir Stoffe ausdenke. Ich möchte immer etwas schaffen, das ich mir wünsche. Für mich ist Film schon eine Traumfabrik. Ich glaube, dass ich im Moment tatsächlich frei und unabhängig bin. Das habe ich mir erarbeitet, und ich hoffe, dass ich weitermachen kann. Wenn sich meine Filme allerdings keiner ansieht, wird das natürlich nicht leichter. Aber ich würde eher etwas ganz anderes machen als Kompromisse.

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