"Wild" von Nicolette Krebitz im Kino:Wölfe kommen überallhin

"Wild" von Nicolette Krebitz im Kino: Von vorne nach hinten: Wolf, Mädchen (Lilith Stangenberg) und Halle-Neustadt. Zusammen ergibt das den animalischen Liebesfilm "Wild".

Von vorne nach hinten: Wolf, Mädchen (Lilith Stangenberg) und Halle-Neustadt. Zusammen ergibt das den animalischen Liebesfilm "Wild".

(Foto: NFP)

Manchmal schaffen sie es sogar in den erotischen Traum einer jungen Frau. "Wild" erregte beim Sundance Filmfestival Aufsehen - aus dem deutschen Film ragt er turmhoch heraus.

Filmkritik von Tobias Kniebe

Vorzeichen gibt es schon. Am Horizont ragen Plattenbauten auf, in einen extra düsteren Himmel. Der Park und das Feld dahinter sind menschenleer. Im Unterholz am Bahndamm undurchdringliches Dunkel, vor dem die Kamera, seltsam angelockt, einen Moment zu lange verharrt. Da lauert etwas. Oder vielleicht lauert es auch nicht, sondern wartet einfach.

Jeden Morgen und jeden Abend läuft hier eine junge Frau vorbei. Ania (Lilith Stangenberg) bewegt sich durch ihren Tag - und durch den Film "Wild" von Nicolette Krebitz - wie ferngesteuert. Eine lange Busfahrt, ein Agenturjob, der vor allem aus Kaffeeholen besteht, einsame Abende im Schlafstadtturm. Wenig scheint sie zu berühren. Sie wirkt wie eine Schlafwandlerin, die schon ewig darauf wartet, geweckt zu werden. Das passiert, eines grauen Morgens, auf dem Weg zur Arbeit. Windböen fegen über die Landschaft, irgendwo schreit kläglich ein Vogel. Und auf einmal steht er da, der Wolf.

Womit auch der Film aus seinem Erzählmodus herausgerissen wird, der bis dahin in ein "überzeugendes Frauenporträt" münden könnte oder in eine "sensible Entfremdungsstudie". Nichts da! Stille Mädchen bekommen vielleicht den Grimme- Preis - Wölfe aber kommen überallhin. Zum Beispiel auf das Sundance-Filmfestival in den USA, wo "Wild" im Januar schon großes Aufsehen erregt hat.

Wovon muss die junge Frau eigentlich befreit werden?

Wobei so ein Wolf im Park, in der Plattenbau-Ödnis von Halle-Neustadt, nicht auf Anhieb spektakulär aussieht. Im Verhältnis zum Beispiel nicht riesig. Und auch nicht wirklich bedrohlich, nicht wahnsinnig wild. Sondern eben wie so ein Tier, das nahe der polnischen Grenze manchmal an Stadträndern herumstreift und für die ganzen Fantasien, die es bei den Menschen auslöst, nichts kann.

Ania starrt den Wolf also an. Der Wind bläst ihr die Haarfransen aus dem Gesicht, hinter denen sie sich sonst gern versteckt. Der Wolf schaut ruhig zurück, mit gelblich glimmenden Augen. Dann verschwindet er im Unterholz. Ania blickt ihm lange nach, und von nun an wird auch sie eine Art Glimmen in den Augen haben.

Schon klar, denkt man da: der Ruf der Wildnis. Die Stille und das Biest. Die mit dem Wolf tanzt. Wenn das aber eine simple Befreiungsgeschichte werden soll, würde man schon gern wissen, wovon diese junge Frau eigentlich befreit werden muss. Illusionen, falschen Träumen, Männern, einer erstickenden Gesellschaft? Hatte sie nicht, kannte sie nicht, hat sie sowieso nie mitgemacht. Nicolette Krebitz bewegt sich auf völlig unbekanntem Terrain.

Dieser Wolf ist kein Märchenbewohner - er ist schlicht ein wildes Tier

Was kauft man für einen großen Hund, fragt Ania im Supermarkt, "wenn's was Besonderes sein soll?" "Das wird nicht billig", sagt der Metzger. Ania zuckt die Schultern und hängt ein teures Steak ins Gebüsch. Sie googelt "Wolf Deutschland". Sie liest ein altes Buch über die Lappjagd, bei der ein ganzes Waldstück mit bunten Bändern verhängt wird, an denen sich Wölfe dann nicht mehr vorbeitrauen, und man sie zusammentreiben kann.

Aber der Wolf bleibt erst einmal verschwunden. Er ist kein computeranimiertes Wesen aus dem Reich der Fantasy, kein großer, böser Märchenbewohner, kein liebeshungriger Werwolf und kein Heuler im Mondlicht, nicht einmal ein besonderes Symbol für das Verdrängte in uns. Er ist ein wildes Tier. Und also ist es dann die Frau, die Initiative zeigen muss, damit aus der Beziehung auch was wird. Wie immer.

Ania inszeniert ihre ganz persönliche Lappjagd, und der Film verwendet viel Zeit darauf, das ausführlich zu beglaubigen: Woher sie die ganzen bunten Stofffetzen hat, wer ihr hilft, wem der Transporter gehört, welchen Tierbetäubungscocktail sie verwendet (es ist, wie sollte es anders sein, die bewährte "Hellabrunner Mischung") und warum sie schießen kann, mit der Pistole wie auch mit dem Blasrohr. Danach ist der Wolf dann Gefangener in ihrer Wohnung, in einem anonymen Apartmenthochhaus, und man hört das sächselnde Keifen der Hausmeisterin: Was stinkt hier denn so?

"Ich musste mich ihm öffnen", sagt die Schauspielerin über den Wolf

Eine Liebe also, die fürs Erste geheim bleiben muss. Der Wolf lebt allein in einem Zimmer, Ania nebenan - sie ist ja nicht lebensmüde. Oder doch? Nachts sind auf einmal alle Türen offen, eine Blutspur führt ins Bad, der Wolf folgt ihr schlabbernd, aha, es ist Menstruationsblut, die nackte Ania erwartet ihn, der Wolf leckt weiter, und schließlich leckt er auch direkt an der Quelle.

Ein Moment, den der Chefkritiker des Hollywood Reporter nie mehr vergessen wird, und wahrscheinlich auch sonst niemand, der ihn gesehen hat. War aber, puh, nur ein Traum. Außer natürlich für die Schauspielerin Lilith Stangenberg, die diese Bad-Girl-Fantasie mit ihrem Körper beglaubigen musste, mit Wolfsfängen, Wolfsatem, Wolfsgesabber im Schoß. Und einem erfahrenen ungarischen Tiertrainer, gerade mal so außerhalb des Bildes.

Lilith Stangenberg macht das mit atemberaubender Souveränität, und wenn man sie heute darüber reden hört, war da wirklich etwas zwischen ihr und dem Wolf, eine Chemie, ein Einverständnis. "Wenn ich nicht direkt war oder wenn ich einen Zweifel hatte und in der Körperlichkeit uneindeutig, verkrampft war, hat der Wolf sofort angefangen, mir zu misstrauen", sagt Stangenberg. "Ich musste mich ihm öffnen."

Das ist die Ebene des Konkreten, die hier mächtig präsent bleibt, während sich nun die Realität langsam auflöst, während der Wolf und die Frau sich finden und sie die letzten Verbindungen abbricht, die sie bisher noch gehalten haben, zum Alltag, zur Zivilisation, zur Wirklichkeit.

Aus dem Meer der Gleichförmigkeit des deutschen Films ragt dieser turmhoch heraus

Zu Papier bringen kann man ja viel, als feministisches Statement, als weibliche Dominanz- oder Unterwerfungsfantasie, als kleine oder große Flucht. Aber alles ist noch mal anders, wenn man dann wirklich eine Frau und einen Wolf vor der Kamera zusammenbringt. Da entsteht etwas Unerklärliches, ein nicht ganz auflösbares Rätsel, das seine eigene Wahrheit hat, vielleicht im gemeinsamen Ursprung zweier Lebensformen, im fernen Echo der Evolution.

"Wild" ist Nicolette Krebitz' dritter Spielfilm. Hauptsächlich arbeitet sie als Schauspielerin, nur alle sieben bis neun Jahre schreibt und inszeniert sie etwas Eigenes. Vielleicht liegt es daran, wie eigen ihre Sachen sind: "Jeans" war der Versuch, einen unwiederbringlich großen Berlin-Sommer festzuhalten, mit nichts als den besten Freunden. "Das Herz ist ein dunkler Wald" erzählte von der Erweckung einer Frau, Nina Hoss, aus Lüge, Mutterschaft und Selbsttäuschung.

All diese Filme haben etwas Suchendes, Unvollendetes, über das man sich leicht erheben kann. "Das Herz ist kein dunkler Wald, sondern ein sehr kraftvoller Muskel", hat Rainald Goetz dazu einmal notiert, gegen den fatalen Drang, es sich im Poetischen allzu bequem zu machen. Das ist wahr. Und ein Wolf ist ein Wolf ist ein Wolf.

Solch angeberhafter Materialismus führt aber, wie Goetz gleich anschließend einräumen muss, auch nicht wirklich weiter. Eher gilt es, stur zu bleiben und sich den tausend wohlmeinenden Ratschlägen zu widersetzen, die insbesondere unser Filmfördersystem für alle bereithält, die wirklich mal etwas riskieren wollen. Das ist Nicolette Krebitz bei "Wild" gelungen. Aus dem Meer der Gleichförmigkeit, das wir den deutschen Film nennen, ragt sie damit turmhoch heraus.

Wild, Deutschland 2016 - Regie und Buch: Nicolette Krebitz. Kamera: Reinhold Vorschneider. Schnitt: Bettina Böhler. Musik: Terranova, James Blake. Mit Lilith Stangenberg, Georg Friedrich, Silke Bodenbender, Saskia Rosendahl. Verleih: NFP, 97 Minuten.

Zur SZ-Startseite

Lesen Sie mehr zum Thema

Jetzt entdecken

Gutscheine: