Im Kino: Rohtenburg:Die Allgewalt der Liebe

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Der eigentliche Horror ist die deutsche Provinz: Der umstrittene Film über den Kannibalen von Rotenburg lotet die Grenzen des Normalen aus und taugt nicht fürs Splatter-Gerne.

F. Göttler

Ein Märchenfilm aus der deutschen Provinz, so horrend und naiv, wie nur Märchen sein können. "A Grimm Tale" hieß im Untertitel die amerikanische Version des Films. Die Geschichte des Armin Meiwes, des "Kannibalen von Rotenburg", der im März 2001 einen Mann kastrierte und sein "bestes Stück" aß und nach seinem Tod weitere Teile seines Körpers. Er hatte den willigen Partner für diesen schaurigen sexuellen Deal im Internet gesucht und gefunden. Selbstverstümmelung und Kannibalismus, dazu die Schrecken einer kaputten Familie und einer verkorksten homosexuellen Entwicklung - aber der eigentliche Horror, das ist die deutsche Provinz.

EIn diffuser Bereich, in dem Liebe und Perversion zusammenspielen: Thomas Kretschmann (r.) als Armin Meiwes. (Foto: Foto: Senator)

Es hat drei Jahre gedauert, bis der Film in die Kinos kommen konnte. Im März 2006 sollte er starten, in der Woche der Urteilsverkündung im Prozess gegen Armin Meiwes. Das Oberlandesgericht Frankfurt hat auf Antrag von Meiwes den Film per Einstweiliger Verfügung mit einem Aufführungsverbot belegt, weil er die Persönlichkeitsrechte des Verurteilten verletze.

Produzent und Verleih beriefen sich auf die in der Verfassung festgelegte Freiheit der Kunst. Sie legten schließlich Beschwerde beim Bundesgerichtshof ein, der am 26.Mai den Film freigab. Auch wenn der Film Meiwes erheblich belasten könne - "weil er die Tat auf stark emotionalisierende Weise erneut in Erinnerung rufe" -, das Persönlichkeitsrecht muss hier dennoch zurückstehen gegenüber der Kunst- und Filmfreiheit, dem "Informationsinteresse der Öffentlichkeit". Der Film rühre detailliert an die schützenswerte Privatsphäre, stelle aber den "Achtungsanspruch des Klägers als Mensch nicht in Frage".

Eine schrecklich deutsche Geschichte

Kunst- und Filmfreiheit, das meint keinen ästhetischen Begriff, sondern bezieht sich auf jenen komplexen Prozess, in dem in der modernen Kommunikationsgesellschaft Geschichte fabriziert, Ereignisse in Geschichten und Personen in Figuren verwandelt werden, in unmittelbarer Nähe zum Geschehen. Auch die imaginären Ausgestaltungen, die Boulevardpresse, Fernsehen, Kino den reinen Fakten zuliefern, haben ihren Grad an Realität - die Fakten waren nie rein.

Es geht also um Darstellung und Selbstdarstellung, Verfremdung und Identifikation, Verzerrung und Manipulation, was nur schwer auseinander zu halten ist. Es geht um die Frage, wer das Bild gestalten soll/darf, das die Öffentlichkeit bekommt, und da muss man den Kannibalen von Rotenburg als einen unter vielen - einen abseitigen, zugegeben - einreihen in die aberwitzigen Promivermarktungskämpfe. Es geht auch um die Rückkoppelungseffekte, die Bilder haben könnten - in Indien kann ein Schnellschuss über das Attentat von Mumbai nicht ins Kino kommen, weil dem überlebenden Attentäter noch nicht der Prozess gemacht ist und der Film diesen beeinflussen könnte.

Als der Schnellschuss "Rohtenburg" 2006 verboten wurde, war in manchen Kommentaren eine Spur Schadenfreude zu spüren, weil ein Produzent sich eben verspekuliert hatte. Aber spekulativ ist der Film nun wirklich nicht geworden, für die Erregungen des Splatter-Genres taugt er nicht. Er schickt eine amerikanische Kriminalpsychologie-Studentin (Keri Russell) los, die eine schrecklich deutsche Geschichte erforscht, und die Tristesse, die an dieser Geschichte klebt und an dem Land, für das sie so symptomatisch ist, droht auch sie zu packen.

Tötung als Schwerstarbeit

Der international erfolgreiche Thomas Kretschmann - flexibel zwischen SS, Seewolf und Wojtyla - spielt Meiwes unscheinbar und spießig und verbissen, die Tötung des "Mitspielers" gerät ihm zur Schwerstarbeit. Er agiert in jenem diffusen Bereich, in dem Liebe und Perversion zusammenspielen und also das in Frage stellen, was man als Normalität sehen möchte - Freud hat es formuliert in einer berühmten Passage in den "Drei Abhandlungen zur Sexualtheorie", 1905.

"Es ist hier (in der Perversion) ein Stück seelische Arbeit geleistet, dem man trotz seines greulichen Erfolges den Wert einer Idealisierung des Triebes nicht absprechen kann. Die Allgewalt der Liebe zeigt sich vielleicht nirgends stärker als in diesen ihren Verirrungen. Das Höchste und das Niedrigste hängen in der Sexualität überall am innigsten aneinander (,vom Himmel durch die Welt zur Hölle')." Das Pathos, das Freud einsetzt, um die brutale neue Wahrheit des Seelenlebens zu formulieren, hat das Kino, das zur gleichen Zeit entstand, nie gebraucht, und an den Primat der Vernunft hat es nie geglaubt.

Im amerikanischen Kino sieht man, wie vital die Provinz ist. Im deutschen ist sie meistens tot. Der Ort, an dem der Filmkannibale lebt, ist trostlos. Wer hier aussteigt, möchte den Bahnsteig am liebsten gar nicht verlassen, mit dem nächsten Zug wieder fortfahren. "Ich hatte (meine Heimatstadt) Remscheid und Wuppertal (den Drehort des Films) als unheimlich reiche Städte in Erinnerung", erzählt der Produzent Marco Weber, "die sie in den siebziger Jahren ja aufgrund der damals noch florierenden Werkzeugindustrie auch noch waren. Mir fiel auf, dass sich das in den letzten zwanzig Jahren radikal geändert hat. Was ich als farbig und grün in Erinnerung hatte, ist heute düster und runtergekommen ..."Der Horrorfilm von 2006 hat eine neue Aktualität heute, als Krisenfilm.

ROHTENBURG, D/USA 2006 - Regie: Martin Weisz. Buch: T. S. Faull. Kamera: Jonathan Sela. Mit: Thomas Kretschmann, Keri Russell, Thomas Huber, Nikolai Kinski. Senator, 88 Minuten.

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© SZ vom 18.06.2009/kar - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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