Im Kino: "Boxhagener Platz":Genossen, lasst Luft rein!

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Milieustimmigkeit bis hin zur Deko-Muschel auf dem Fernsehapparat: Boxhagener Platz erzählt etwas stickig von der real existierenden DDR-Tristesse des Jahres 1968.

Rainer Gansera

Erster Eindruck: Hier muss dringend gelüftet werden! So düster, miefig und verstaubt ist die Atmosphäre in den Wohnräumen von Oma Otti und in der Kiez-Eckkneipe Feuermelder am Boxhagener Platz, dass sich der Wunsch nach Sauerstoff schnell zu einem stummen Schrei verdichtet: Fenster auf!

Gewiss haben der Drehbuchautor Torsten Schulz (seine gleichnamiger Roman liegt dem Film zugrunde) und der Regisseur Matti Geschonneck diesen Eindruck bewusst erzeugt. Sie erzählen von der real existierenden DDR-Tristesse im Ostberlin des Jahres 1968, also von einer gesellschaftlichen Atmosphäre, die einen tatsächlich schwer nach Luft schnappen lässt.

Anderswo gärt es: Studentenunruhen im Westen, in Prag soll es Frühling werden. Zugleich erzählen Schulz/Geschonneck davon aber so, dass sich die Sehnsucht nach Aufhellung, Freiheit und Durchzug auch auf ihre Story und Inszenierung überträgt. Die Kleine-Leute-Apotheose gerät zu eng und kleinkariert. Sie soll sich zwar von all dem unterscheiden, was bislang im Genre des "DDR-Films" - von Sonnenallee über Good Bye, Lenin! bis zu Das Leben der Anderen - zu sehen war. Also von Ostalgie-Rührung, NVA-Klamotte, Stasi-Drama, Mauerfall-Eventfernsehen. So stießen die beiden Erzähler auf das Kleine-Leute-Thema - und stürzten sich mit einer Art Milieu-Hassliebe hinein.

Kriminalstory und Bekenntnisfilm

Aber immer nur dann, wenn sich die Geschichte auf die Perspektive des zwölfjährigen Holger (Samuel Schneider) einlässt, gewinnt sie Spannung und Elan: aus der Naivität eines Jungen, der alles neugierig bestaunen kann und unvermutet in den Ruf staatsfeindlicher Umtriebe gerät. Leider will Boxhagener Platz noch vielerlei anderes sein: die Geschichte der fidelen, von diversen Verehrern umschwärmten Oma Otti (Gudrun Ritter), dazu eine Kriminalstory, aber auch ein Bekenntnisfilm, der über den Unterschied zwischen wahren, "idealistischen" Kommunisten und den opportunistischen SED-Parteibonzen belehrt.

Einmal klagt der neueste Verehrer von Oma Otti, der ehemalige Spartakuskämpfer Karl Wegener (Michael Gwisdek) darüber, dass es in Deutschland mit Arbeiterbewegung und Revolution immer schiefgegangen sei. An dieser Stelle möchte man dazwischenrufen, dass dies wohl aus demselben Grund geschah, aus dem auch die Story vom Boxhagener Platz schließlich scheitert - sie schreckten vor jeder Konsequenz zurück.

So bleibt hier bald nur ein Sammelsurium aller möglichen Motive und Figuren: der linientreue Volkspolizist mit Herz, der schwule Onkel, und die Mutter, die vom discobunten Leben im Westen träumt.

Vielleicht liegt die Empfindung des Erstickenden auch daran, dass im Studio gedreht wurde. Dort entsteht schnell eine Überdeterminiertheit des Authentischen: wenn sich das knallige Mäandermuster der Tapete im Muster der Tischdecke fortsetzt, wenn jedes Detail, von der Schnapsflasche bis zur Deko-Muschel auf dem Fernsehapparat, seine Milieustimmigkeit demonstriert. Weil sich dann auch noch der titelgebende Platz kaum einmal als öffentlicher Raum zeigt, bleibt schließlich nur dieses alte Nouvelle-Vague-Gefühl: Man möchte die Kamera schnappen - und nach draußen stürmen.

BOXHAGENER PLATZ, D 2009 - Regie: Matti Geschonneck. Buch: Torsten Schulz, nach seinem Roman. Kamera: Martin Langer. Musik: Florian Tessloff. Mit: Gudrun Ritter, Michael Gwisdek, Samuel Schneider. Pandora, 103 Min.

© SZ vom 4.3.2010 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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