Im Interview: Marcelo Figueras:"Andere würden dafür töten"

Lesezeit: 5 min

Zutiefst lateinamerikansich, zutiefst europäisch: Ein Gespräch mit Marcelo Figueras, einem der wichtigsten modernen Schriftsteller Argentiniens über das Gastland der Frankfurter Buchmesse, Präsidentin Cristina Kirchner und unverzeihliche Sünden.

Sebastian Schoepp

Marcelo Figueras gehört zu den wichtigsten modernen Autoren Argentiniens. In seinen Romanen ,,Kamtschatka'', ,,Das Lied von Leben und Tod'' und ,,Der Spion der Zeit'' hat er sich auf stilistisch sehr unterschiedliche Weise mit der Diktatur (1976 bis 1982) und ihren Folgen auseinandergesetzt. Als Drehbuchautor lieferte er unter anderem das Script für die Verfilmung der "Donnerstagswitwen". Figueras, Jahrgang 1962, wurzelt in der Tradition der argentinischen ,,Phantastik'', beherrscht jedoch ebenso souverän die subtile, tragikomische Alltagsbesprechung. Derzeit ist er auf der Buchmesse in Frankfurt.

Viele Mittelschicht-Autoren wollen aus der Realität entfliehen, nicht aus Eskapismus, sondern weil sie denken, die Realität spielt keine Rolle: Marcelo Figueras ist einer der bedeutendsten modernen argentinischen Schriftsteller. (Foto: Juan Hitters)

SZ: Die letzte Diktatur ist das große Thema der argentinischen Präsenz auf der Buchmesse. Wundert Sie das Interesse in Deutschland?

Marcelo Figueras: Ich glaube, es gibt eine ehrliche Anteilnahme daran, wie ein Land diese Etappe seiner Geschichte bewältigt. Vielleicht liegt es daran, dass auch die Deutschen sich intensiv mit ihrer Geschichte auseinandersetzen. In Spanien, wo ich derzeit lebe, ist das leider ganz anders. Dort stellt die Rechte jeder Auseinandersetzung ein Bein in bester Maradona-Tradition.

SZ: Wie haben Sie selbst die Diktatur erlebt?

Figueras: 1976 war ich 14 Jahre alt. Ich war bestens abgeschirmt, lebte in einer Welt der Filme, Comics und Bücher. Die Fassade war perfekt. Trotzdem war der Schatten jederzeit spürbar. Wenn man einen Uniformierten sah, wechselte man die Straßenseite.

SZ: In Argentinien, wie in Deutschland, hat es eine Generation gedauert, bis die Aufarbeitung begann.

Figueras: Es gab anfangs kein Interesse, den Ursachen auf den Grund zu gehen. Man konnte überhaupt nicht darüber diskutieren. In den 90er Jahren, während des Schein-Booms der Menem-Jahre, dachte jeder nur an den nächsten Miami-Urlaub, bis 2002 der Crash kam.

SZ: Es hatten ja auch große Teile der Gesellschaft 1976 den Putsch begrüßt.

Figueras: In Argentinien gibt es diese große Mittelschicht, eine Besonderheit in Lateinamerika. Sie neigt der Rechten zu, hat tiefsitzende Ressentiments gegenüber den unteren Schichten, sozusagen allen, die dunkelhäutig sind. Was vor 1976 passierte, war eine Art Jugendaufstand gegen diese Klassengesellschaft. Man hat diese jungen Leute dämonisiert. Argentinien ist ja zweigeteilt in Besitzende und Arme: Die einen akzeptieren die Existenz der anderen nicht. Es gibt stets diese versteckte Forderung, die anderen zu eliminieren. Das ist heute nicht anders.

SZ: Ihr jetzt auf Deutsch erschienener Roman von 2002, ,,Der Spion der Zeit'', ist ein Krimi. Ein Zugeständnis an die Krimi-Mode?

Figueras: Da die Diktatur eine kriminelle Vereinigung war, schien es mir logisch, dieses Genre zu wählen. Ich respektiere es sehr.

SZ: Argentinien hatte viele Diktaturen. Warum war die von 1976 bis 1982 so viel totalitärer als alle davor?

Figueras: Sie passte ins Bild, es war ja in ganz Lateinamerika das gleiche. Die Drahtzieher wurden systematisch ausgebildet an der Escuela de las Americas in der US-Kanalzone in Panama. Zum einen glaubten die USA verhindern zu müssen, dass ganz Lateinamerika so wird wie Kuba. Aber es gab auch wirtschaftliche Interessen. Der Staat und unsere Industrie wurden demontiert, wir wurden auf Anweisung des Internationalen Währungsfonds Lieferant von Rohstoffen, die woanders verarbeitet werden. Das ging in den ersten 20 Jahren der Demokratie so weiter - bis der Kollaps kam.

SZ: Glauben Sie, dass sich die Geschichte in Argentinien wiederholen könnte?

Figueras: Wieder eine Militärregierung? Nein. Aber mich beunruhigt, was in Honduras geschah: Autoritäre Strukturen hinter einer demokratischen Fassade.

SZ: Wie steht Argentinien im Moment da?

Figueras: Gar nicht schlecht. Die Präsidenten Néstor Kirchner und Cristina Kirchner haben etwas gemacht, wovon ich nie gedacht hätte, dass demokratische Regierungen sich das trauen würden: Sie haben die Amnestien für die Diktatoren aufgehoben. Sie haben den Obersten Gerichtshof neu besetzt, in den Vorgänger Carlos Menem seine korrupten Spezln gesetzt hatte. Sie haben nach 30 Jahren mit einem Mediengesetz aufgeräumt, das noch aus der Diktatur stammte. In den vorhergehenden Jahrzehnten wurde Argentinien von jeder Wirtschaftskrise, so klein sie auch gewesen sein mag, voll erfasst. Egal, was auf dem Planeten passierte, in Argentinien hatte es den zwanzigfachen Effekt. Das ist diesmal nicht passiert, im Gegenteil. Es gibt natürlich noch immer viel Ungerechtigkeit. Aber die Kirchners versuchen, die Autorität des Staates wiederherzustellen, die Schwachen zu schützen. Im Konsens aber geht das nicht.

SZ: In der Öffentlichkeit ist das Bild der Präsidentin Kirchner denkbar schlecht. Sie gilt als unsympathisch.

Figueras: Wer so urteilt, offenbart, dass er keine inhaltlichen Kriterien hat. Eva Peron war auch keine gebildete Frau, das haben ihr viele vorgeworfen. Es ist das Problem vieler Menschen der Mittelschicht: Sie wollen zur Oberschicht gehören. Da sie das nicht schaffen, reagieren sie übermäßig ablehnend auf alles, was irgendwie populär aussieht. Wie konnte ein Typ wie Mauricio Macri Bürgermeister von Buenos Aires werden? Seine einzige Qualität besteht darin, dass er reich ist und Präsident des Fußballclubs Boca Juniors war. Wenn man die Leute fragt, warum sie ihn gewählt haben, kriegt man den Eindruck: Sie tun es, weil sie glauben, dann seien sie wie er. Aber sie werden nie sein wie er. Dass ist, als wenn ich einen Blonden wähle, um blond zu werden. Irrational.

SZ: Spiegelt sich diese Haltung auch in der Literatur wieder?

Figueras: Terriblemente, ha ha. Viele Mittelschicht-Autoren wollen aus der Realität entfliehen, nicht aus Eskapismus, sondern weil sie denken, die Realität spielt keine Rolle. Es ist aber eine unverzeihliche Sünde, in einem Land zu leben, dass jeden Tag wundervolle, unglaubliche, tragische Geschichten produziert und diese nicht aufzugreifen. Autoren in anderen Ländern würden töten, um so viel Stimulanzen zu haben.

SZ: Woran liegt das?

Figueras: Uff, darüber könnte man ein 700-seitiges Eassay schreiben. In Argentinien ist immer der Gegensatz präsent, den der spätere Präsident Sarmiento schon im 19. Jahrhundert beschrieben hat: Zivilisation und Barbarei. Dieses Land ist zutiefst wild, zutiefst indigen, zutiefst lateinamerikanisch. Und es ist zutiefst europäisch, hat eine Hochkultur. Das führt jeden Tag zu unfassbaren Auseinandersetzungen.

SZ: Die junge Schriftsteller-Generation scheint diese Themen rege aufzugreifen, wobei ,,jung'' heute wohl bis 50 zu reichen scheint.

Figueras: Wunderbar, ich bin also noch ein junger Autor! Na ja, in meiner Generation gab es noch diese Selbstzensur, diese unterschwellige Angst. Die ganz Jungen haben keine Furcht vor respektlosen Formen. Sie üben sich aber auch nicht in sozialistischem Realismus. Felix Bruzzone, dessen beide Eltern in der Diktatur verschwanden, nähert sich ihr ohne jeden Hass, ich halte ihn für wundervoll.

SZ: Haben die Schriftsteller gesellschaftlich etwas zur Aufarbeitung beitragen können?

Figueras: Die Literatur hat getan, was sie im Rahmen ihrer bescheidenen Möglichkeiten tun konnte, sie hat eine Flamme am Brennen gehalten. Sie hat dazu beigetragen, dass das Thema präsent bleibt, und wir an dem Punkt landen, dass diese Leute doch noch vor Gericht müssen. Allerdings schreiben nicht alle Argentinier über die Diktatur, die Mehrheit schreibt über andere Sachen.

SZ: Man hat den Eindruck, argentinische Autoren sind weltgewandter geworden, nachvollziehbarer, globaler in Inhalt und Form.

Figueras: Ich will mich nicht verpflichtet fühlen, über Argentinier zu schreiben. Mein jüngster Roman spielt in Palästina, wo ich als Berichterstatter einer spanischen Zeitschrift war. Ich beschreibe eine Israelin, einen Juden in New York, und ich fühle mich wohl damit. Diesen universellen Anspruch hatte die argentinische Literatur übrigens schon vor der der Wasserscheide der Diktatur.

SZ: Hat sich Lateinamerika in den vergangenen 20 Jahren weiterentwickelt?

Figueras: Unbedingt. Zum Glück waren die USA lange woanders beschäftigt. Die demokratischen Strukturen werden heute stets neu durch Wahlen legitimiert. Auch Hugo Chavez ist an den Urnen bestätigt worden, und zwar öfter, als jeder andere Präsident des Kontinents. Das ist auf gewisse Weise auch eine Revolution. Leider gibt es darüber eine verzerrte Sicht in Europa. Ich frage mich immer: Warum urteilen Medien so progressiv über Palästina und so reaktionär über Lateinamerika?

© SZ - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
Zur SZ-Startseite

Lesen Sie mehr zum Thema

Jetzt entdecken

Gutscheine: