Ian McGuires Roman "Der Abstinent":Dunkles, unergründliches Chaos

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Archaische Welt an der Schwelle der Moderne: die britische Industriemetropole Manchester Mitte des 19. Jahrhunderts. (Foto: Imago Images/Imago Images)

In seinem Roman "Der Abstinent" erzählt Ian McGuire eindrucksvoll detailreich vom Überlebenskampf im Manchester des 19. Jahrhunderts.

Von Nicolas Freund

Nach diesem Buch weiß man, wie Manchester im 19. Jahrhundert roch: Nach Schweiß und Sägemehl, nach Tabak und verbranntem Toast, nach Ruß und ganz leicht nach Ammoniak. Und man weiß, wie es sich anhört: wie prasselnder Regen, wie eine ungeschmierte Wagenachse, wie ein wütender, angeketteter Hund.

Mit dem Roman "Nordwasser" gelang dem britischen Literaturwissenschaftler und Schriftsteller Ian McGuire vor fünf Jahren einen Überraschungserfolg. Der an Herman Melville und Joseph Conrad erinnernde Roman über die wilden Abenteuer eines in Ungnade gefallenen Armeearztes auf einem Walfängerschiff war für den Booker-Prize nominiert und wird gerade als Fernsehserie mit Colin Farrell verfilmt. Auch der neue Roman des Briten spielt wieder im 19. Jahrhundert, aber diesmal nicht auf hoher See, sondern im Norden Englands, in Manchester, wo sich die Fenians, die Anhänger der irischen Unabhängigkeitsbewegung, einen brutalen Kampf mit der örtlichen Polizei liefern.

Der wahre Hintergrund: Drei Fenians wurden am 23. November 1867 in Manchester gehängt, weil sie bei einem Überfall auf einen Gefangenentransport einen Polizisten erschossen hatten. Ausgehend von diesem historischen Ereignis lässt McGuire den Konflikt im Roman eskalieren. Die Fenians schwören Rache und lassen aus den USA den Iren Stephen Doyle einschiffen, ein äußerlich und innerlich vernarbter Veteran aus dem amerikanischen Bürgerkrieg, bekannt für seine Skrupellosigkeit.

Als Literaturwissenschaftler ist McGuire Experte für die Literatur des 19. Jahrhunderts

Sein Gegenspieler ist James O'Connor, ebenfalls Ire und wie der Arzt aus "Nordwasser" ein schwer Gebeutelter. Nach dem frühen Tod seiner Frau ergab er sich dem Alkohol, bis er bei der Polizei in Dublin nicht mehr zu tolerieren war und nach Manchester versetzt wurde. Dort bekam er den Alkohol unter Kontrolle, steht aber nun als Ire im Kampf der Polizei gegen die Fenians zwischen den Fronten. Wie durch ein Minenfeld navigiert er zwischen dem Misstrauen seiner Kollegen und der ständigen Gefahr, ins Visier der Unabhängigkeitskämpfer zu geraten.

"Der Abstinent" spielt im Polizeimilieu und liest sich oft wie eine der finsteren Geschichten Raymond Chandlers, aber ein Krimi ist dieser Roman nicht. Es geht nicht um einen Kriminalfall, sondern um die Figuren und die Welt, in die sie geworfen wurden. Fast wie in Michael Manns Filmthriller "Heat" mit Al Pacino und Robert De Niro lässt McGuire seine beiden Hauptfiguren Schachzug um Schachzug einander umkreisen, täuschen und ausmanövrieren, alles vor der Kulisse Manchesters im 19. Jahrhundert, die so anschaulich geschildert wird, dass man sich nach der Lektüre fast den Dreck aus dem Gesicht waschen möchte.

Ian McGuire: Der Abstinent. Roman. Aus dem Englischen von Jan Schönherr. DTV, München 2021. 336 Seiten, 23 Euro. (Foto: N/A)

McGuire ist als Wissenschaftler Experte für die Literatur des 19. Jahrhunderts. Er schildert das Leben dieser Zeit detailreich, verliert sich aber nicht darin oder lässt die Beschreibungen zum Selbstzweck werden. Der Realismus funktioniert auch wegen der sehr gelungenen Übersetzung Jan Schönherrs, der man kaum anmerkt, dass sie eine ist. Der Detailreichtum führt zudem in den Kern des Romans. "Echt ist nur, was man berühren oder schmecken kann", denkt eine der Figuren einmal. Obwohl er in einer englischen Großstadt an der Schwelle zur Moderne spielt, erzählt "Der Abstinent" von einer archaischen Welt. Die Figuren sind seelisch und körperlich Versehrte. Neben dem Kampf gegeneinander geht es immer auch um das blanke Überleben, die Grundbedürfnisse. Ständig wird gegessen, getrunken, geschlafen.

Alles scheint so flüchtig wie die Erlösung, die sich O'Connor vom Alkohol verspricht

McGuire blickt mitten in der Großstadt, auf den Straßen und in den Pubs hinter den Vorhang der Zivilisation. Bei jedem Pint, in jedem warmen Bett, mit jedem Laib Brot weht einen die Vergänglichkeit an. Alles scheint so flüchtig wie die Erlösung, die sich O'Connor vom Alkohol verspricht. Sein Gegenspieler Doyle hat im Krieg gelernt, "dass Hoffnungen und Sorgen unnütz sind, dass ein dunkles, unergründliches Chaos die Welt regiert, ein Chaos, dem man sich als Mensch bestenfalls anpassen kann". Hat er damit recht? O'Connor beginnt bald, daran zu zweifeln, ob er als einfacher Polizist das Chaos im Zaum halten kann oder ob sein Kampf nicht doch eigentlich völlig aussichtslos ist. Gibt es einen Ausweg aus der Welt der Gewalt und des reinen Überlebens und aus der Sucht, die ein solches Leben werden kann? Der Roman schlägt ganz am Ende einen Ausweg vor, der aber so unsicher ist, wie die Abstinenz eines schweren Alkoholikers: Jederzeit könnte ein Rückfall drohen.

Zu schwer wird der Roman trotz so existenzieller Fragen aber nie, auch nicht, wenn er bei den Themen Terrorismus und Nationalismus sogar noch einen Bogen in die Gegenwart spannt. Man merkt diesem leicht zu lesenden Text an, dass viel Arbeit in ihm steckt, dass jedes Wort da steht, wo es stehen muss, um eine fast perfekt gefügte Erzählung zu ergeben, die den Leser genau an den richtigen Stellen mit Bildern und Anspielungen in die gewünschte Richtung lenkt, ohne belehrend oder altklug zu wirken. Ein unprätentiöser, fast stiller Roman, der seine Tiefe dennoch nie ausstellt, sondern es schafft, in den rußschwarzen Straßen Manchesters grundlegende Fragen nach Gewalt, Schuld und Erlösung zu stellen.

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