Neues Album von Morrissey:Wenn wieder einer sagt, er hüte die Wahrheit

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„Jeder wächst irgendwann aus seiner Morrissey-Phase heraus. Außer Morrissey.“ Der heldenhafte Wahrheitshüter in London, am 14. März. (Foto: laif/CAMERA PRESS/Awais Butt)
  • Der ehemalige Smiths-Kopf Morrissey hat ein neues Album herausgebracht, seit Jahren stilisiert er sich als rechter Kreuzritter.
  • Anstatt wieder darüber zu meditieren, ob man Künstler und Werk voneinander trennen kann, denkt man sich beim Hören diesmal: Sind dieser Mann und seine Musik eigentlich die ganze Aufmerksamkeit wert?

Von Joachim Hentschel

Es gibt eine neue Platte von Morrissey, dem großen Sänger, Songwriter und dramatischen Charakterdarsteller aus Manchester - und wer da ernsthaft nur wissen will, wie denn die Musik klingt, die man auf dieser Platte findet, dem sei versichert: Sie ist laut (außer man dreht sie ganz leise). Sie wird auf so überraschend unterschiedlichen Instrumenten wie Gitarre, Keyboard und Trommel gespielt. Die meisten Lieder wurden in Dur-Tonarten verfasst. Und, in der Tat, ab und zu singt einer, und er singt oft ziemlichen Quark. Reicht das?

Anders gesagt: Nein, wenn heute ein neues Morrissey-Album erscheint, dann ist selbstverständlich nicht nur die Musik das Thema, der Grad ihrer Unterhaltsamkeit oder melodischen Majestätik, auch wenn viele Fans das jedes Mal wieder behaupten. Dazu müssen diese Leute nicht mal leugnen, dass der frühere The- Smiths-Sänger sich zuletzt auf atemberaubend deutliche Art als rechtspopulistischer Hanswurst präsentiert hat, durch öffentliche Aussprüche, Aktionen, Kostümierungen. Sie müssen nur postulieren, man könne doch das eine vom anderen trennen: das künstlerische Ergebnis von der Haltung des Künstlers, ohne jeden überlappenden Fettrand. So wie ja vielleicht auch eine Tüte Rumtrüffel großartig schmeckt, die ein Nazi-Patissier heiter angerührt hat.

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Die Wienerinnen von "My Ugly Clementine" beweisen, dass sie tatsächlich eine Supergroup sind und Morrissey nimmt seine Rolle als Lügenpresse-Baron mal wieder absolut ernst.

Die Frage haben wir ja oft durchgekaut, zu diversen Künstlern und Delikten, mittlerweile so irrsinnig oft, dass man sich richtig schämt, wie schlecht man sie spontan beantworten kann. Handkes Erzählungen, Polanskis Filme, Noldes Bilder, die Raps von Kollegah, die Witze von Louis C. K. und obendrauf das Dilemma, welche Folgen die letzte Filmdoku für die historisch-kritische Michael-Jackson-Rezeption haben könnte - wie war das noch mal im Einzelnen? Zu welchem Urteil kamen wir, wer hatte das letzte Wort, erinnert sich wer?

Ist dieser Künstler die Aufmerksamkeit wert?

Die Problemstellung, ob man denn im Jahr 2020 noch Morrissey hören dürfe, kann man wenigstens leicht klären. Führende Virologen bestätigen: Ja, man darf. Es ist ungefährlich. Man wird niemand anderem damit schaden. Es wird einem kein Aluminiumhut wachsen, keine Björn-Höcke-Locke oder Schlimmeres, wenn man im Vorbeiweg Songs wie "The Girl from Tel-Aviv Who Wouldn't Kneel" oder "The National Front Disco" aufschnappt.

Der springende Punkt ist viel mehr, ob Künstler und Werk die Aufmerksamkeit wert sind. Ob wir hier Zeit und Geld, und seien es nur die paar verfluchten Cent beim Online-Streaming, in eine unterstützenswerte Sache investieren - oder in die Erwerbsbiografie, den Reichweiten-Algorithmus und die Trophäenbox eines rechten Kreuzritters, der seine künstlerischen und ideologischen Missionen längst in eins gepanscht hat.

Wie gesagt: Man muss das neue Morrissey-Album "I Am Not a Dog on a Chain" nicht unbedingt hören, um das für sich zu beantworten. Aber, mein Gott, es schadet auch nicht.

Es gibt schon Songs, für die möchte man den Alten umarmen

Und es fängt gleich mit einem echten Hit an. "Jim Jim Falls" brettert los wie ein mit flüssigem Amphetamin betankter Vesparoller, auf dessen Sitzbank der Sänger einbeinig und mit ausgebreiteten Armen balanciert, im weinroten, vom Fahrtwind verflatterten Brokatmantel, als gnadenloser König und seltsamer Erzähler. Wer in den Wasserfall springen wolle, solle es tun, anstatt immer nur drüber zu reden, ordnet er genervt an - und wer ständig den eigenen Suizid ankündigen würde, könne gleich hinterherhüpfen. Der Scherz würde, aus dem Zusammenhang gerissen, auf der Twitter-Plattform keine fünf Sekunden überstehen, doch im Kontext der typischen Morrissey-Diktion wirkt er als bittere, extrem schlagkräftige Metapher. "If you're gonna live then live, don't go on about it", singt er: Erspart uns euren Blödsinn! Man möchte den Alten umarmen für den Song.

Morrissey ist ja deshalb so ein schwieriger Fall, weil es gerade die gezielten Grenzüberschreitungen waren, die ihn für viele zu einem solchen Herzenscharakter gemacht haben. Wer in den Achtzigern The Smiths entdeckte, bis heute fraglos eine der ästhetisch radikalsten und maßgeblichsten Bands der gesamten Popgeschichte, ließ für diese Stimme oft alle Schutzschilder sinken. Hörte ihn in Fötusstellung über Walkman-Kopfhörer, tief unter der Bettdecke. Morrissey sang, mit Teddyboy-Tolle und in hohen Versen, vom Stolz der sozial und sexuell Ausgegrenzten, lobte den Vegetarismus, die Enthaltsamkeit, zelebrierte gegen alle Widerrede das Selbstmitleid als Shakespeare'sche Tugend. Beharrte darauf, dass man sich auch als Außenseiter jederzeit die Arroganz leisten müsse, nicht alle hilfreichen Hände zu ergreifen und zurückzulieben.

In einem pfannkuchenplatten Stück feiert er sich selbst als letzten, heldenhaften Wahrheitshüter

Rückblickend bleibt die Erkenntnis, dass die poetische, oft kokette Smiths-Pose mit ihren Gewaltfantasien gegen Autoritäten, ihrem Anti-Amerikanismus und Dandy-Märtyrertum natürlich schon die Saatkrumen für das gelegt hat, was der Sänger heute verkörpert, mit 60, gut 30 Jahre nach dem Ende der Band - wenn er in Interviews Chinesen als Untermenschenrasse bezeichnet, sich über die Opfer sexueller Übergriffe lustig macht, auf der Bühne die Embleme rechtsradikaler Parteien trägt und sich mit Lügenpresse-Reden den pflichtschuldigen Applaus seiner Anhänger abholt, denen es völlig egal ist, wenn Journalistinnen später nachweisen, dass der Sänger die angeblich falschen Zitate tatsächlich so gesagt hat. "Jeder wächst irgendwann aus seiner Morrissey-Phase heraus", hat der irisch-englische Comedian Sean Hughes gesagt, "außer Morrissey selbst." Was nichts daran ändert, dass der Schmerz über den Verlust dieses vermeintlich großen Geistes vor allem aus der Selbstbetrachtung seiner Fans herausfließt. Wie konnten wir uns so täuschen? Eine Trauer ums eigene Gefühl. Eigentlich auch schon wieder ein Smiths-Song.

Ach ja, die Musik. "I Am Not a Dog on a Chain", sein dreizehntes Soloalbum, hat neben "Jim Jim Falls" noch ein paar wirklich tolle Lieder, ein fulminantes Duett mit der Soulsängerin Thelma Houston, die countryzarte Ballade "What Kind of People Live in These Houses?". Aber dann hört man den Titelsong, ein pfannkuchenplattes Stück Verlautbarungspop, in dem der Erzähler sich selbst als letzten, heldenhaften Wahrheitshüter feiert, vom Lesen von Zeitungen abrät und behauptet, die Jackenfirma Canada Goose trachte ihm nach dem Leben, weil er ihr Grausamkeit gegen Tiere vorgeworfen habe. Und spätestens da merkt man, dass Morrissey das alles tatsächlich so meint. Dass er durchaus zu wollen scheint, dass man die Musik als Teil seiner Mission begreift. Dass er sich leider nicht an den guten Ratschlag hält, den er selbst drei Songs weiter vorne gegeben hat: "If you're gonna live then live, don't go on about it."

Woraus beziehen Radikale ihre Fremdbestätigung? Politische Parteien aus Wahlergebnissen. Künstler unter anderem aus ihren Albumverkäufen, Streamingabrufen und Social-Media-Klicks. Natürlich darf jeder jederzeit Morrissey hören. Aber daran sollte man trotzdem denken.

© SZ vom 24.03.2020 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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