Holocaust:Bittere Wahrheit

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Mordechai Striglers Bericht aus Majdanek zeigt schonungslos, wie auch Funktionshäftlinge im KZ prügelten, schikanierten und erpressten - ganz im Sinne der SS. Und er zeigt, was die Kraft des poetischen Wortes in der "Hölle" der Deutschen alles vermag.

Von Robert Probst

"Eine bittersüße Saftigkeit schmiegte sich an den Gaumen und alle Glieder jauchzten auf vor unglaublicher Wonne." Poetisch klingt dieser Satz und doch ist darin das Bittere enthalten. Von einer Idylle kann hier keine Rede sein, genau das Gegenteil ist der Fall. Der Satz spielt in der Hölle und beschrieben werden KZ-Häftlinge, die im Wortsinne Gras fressen, um etwas in ihre leeren Mägen zu bekommen. Aufgeschrieben hat solche und ähnlich ergreifende Szenen Mordechai Strigler. Erst in diesem Jahr ist sein bereits 1946 verfasster Zeitzeugenbericht über sein Leiden im KZ Majdanek auf Deutsch erschienen. Es ist ein Buch, das auf viele Arten besonders ist.

Strigler (1918 - 1998) war nach dem Krieg einer der bedeutendsten jiddischen Schriftsteller und Dichter. Seine Gedichte und Essays gingen in die Tausende. Zudem war er Journalist und Herausgeber der in New York erscheinenden Zeitung Yiddish Forward. Vor dem Krieg war Strigler Moralprediger in der Großen Synagoge von Warschau - und überlebte während der NS-Zeit zwölf verschiedene Ghettos und SS-Lager. 1943 war er für sieben Wochen im Lubliner KZ Majdanek, im "Reich des Todes", gefangen.

Dort sind er und Zehntausende andere nicht nur Opfer der SS, sondern auch dem brutalen Regime der "Funktionshäftlinge" ausgesetzt. Mit großer Akribie und schonungsloser Offenheit beschreibt der damals 27 Jahre alte Strigler die Hierarchie der inneren Ordnung, das teuflische von den Deutschen erdachte Netzwerk jüdischer Befehlshaber, vom Stubendienst über die Blockschreiber zum Blockältesten - "sie waren auch Herren über Leben und Tod eines jeden Einzelnen von uns". Strigler notiert die Schikanen, Erpressungen, die Schläge, die lustvollen Grausamkeiten seiner Peiniger, und er beschreibt das "ständige Hassgefühl" auf die Juden, die unter besseren Bedingungen lebten, den "Neid auf diejenigen, die noch die Möglichkeit hatten, sich etwas zu erträumen". Und es geht auch, als einmal einige Barackenbewohner eine Funktionshäftling übel verprügeln, um eine "Art Begierde, auch zu peinigen, die eigene Machtlosigkeit zu überwinden".

Eine solche Aufrichtigkeit ist nicht in jedem Zeitzeugenbericht zu finden, und auch nicht die Reflexionskraft Striglers, die die FAZ zu einem Vergleich mit Erzählungen der Holocaust-Überlebenden Primo Levi und Imre Kertész animiert hat. In der Tat erzeugen einzelne Episoden einen erzählerischen Sog, mögen die Szenen noch so abstoßend oder grausam sein. So etwa die Erzählung von den Kinder-Kapos in Majdanek, die von der SS als "Läufer" eingesetzt wurden und zuschlugen wie die Großen. Ein solcher Bub wurde eines Tages gezwungen vor den Augen aller, seine Eltern am Galgen aufzuknüpfen. Um zu beweisen, dass er ein guter Kapo und kein Jude mehr sei.

"Selbst wenn du am Leben bleibst, wirst du dich schämen, über solche Sachen zu schreiben. Du wirst nur schöne Reden und Wunder suchen. Die graue Wahrheit wirst du ständig ersticken, oder nur halb berichten", sagte ein Mithäftling zu Strigler. Doch er hat es geschafft, weit mehr zu offenbaren als die Hälfte. Striglers Wahrheit ist bitter, die Lektüre tut streckenweise richtig weh. Aber durch viele Zeilen strahlt - im Angesicht des Todes - auch echte Lebensenergie. Und die Macht des Wortes über die Stockschläge.

Mordechai Strigler: Majdanek. Verloschene Lichter. Ein früher Zeitzeugenbericht vom Todeslager. Aus dem Jiddischen von Sigrid Beisel. Verlag zu Klampen, Springe 2016. 228 Seiten, 24 Euro. E-Book 18,99 Euro.

© SZ vom 29.11.2016 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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