Das betörende und einmalige an Jacques Offenbachs Oper "Les contes d'Hoffmann", Hoffmanns Erzählungen, ist, dass einem am Tag nach der Aufführung der Schädel schwirrt wie nach einer wild durchtanzten Faschingspartynacht, in der Absinth sich mit Haschisch und Champagner abwechselte, die an den verschiedensten Orten Europas gleichzeitig stattzufinden schien (München, Paris, Hamburg, Venedig), zudem ein fantastischer Kostümball, bei dem es in endlosen Diskussionen und praktischen Erprobungen um Kunst und Liebe ging, wobei das Fragment schamlos über die Einheit siegte, Zufallsbekanntschaften erotisierten und Ohrwurm auf Ohrwurm folgte.
"Les contes d'Hoffmann" ist seit seiner Uraufführung vor 140 Jahren die Oper der Opern. Es ist ein unvollendetes Irrsinnsstück, das alle Regeln des Genres verspottet, weil es als erstes die Zerbrochenheit des modernen Mannes in allen Facetten melancholisch und grimassierend durchdekliniert. Der Mann, um den es geht, ist der Komponist und Dichter E. T. A. Hoffmann, der diese Zerbrochenheit in seinen schillernden Texten zwischen 1814 und 1822 in die Welt hinausschleuderte und in Frankreich Begeisterungsstürme auslöste. Aber die Musik brauchte dann noch Jahrzehnte und einen Großmeister wie Jacques Offenbach, bis sie gleichweise unverschämt die Formen knackte, die Tradition durchlöcherte, die hehren Einheiten der Kunst im Fragment ersäufte und dem Mann als Künstler, Lover und Mittelpunkt der Erde ein Ende bereitete.
An der Hamburger Staatsoper steht Benjamin Bernheim als Offenbachs Hoffmann auf der Bühne, der Mann ist die Vollendung eines Tenors. Jung und gutaussehend und agil. Spöttisch und immer souveräner Herr über seine Gesangskunst. Mühelos gleitet Benjamin Bernheims verlockend schöne Stimme in die höchsten Höhen, kein Orchestergebrause und keine Konkurrenten können ihn in den Klanghintergrund verbannen. Ja, Bernheim kann schmettern. Er tut es aber nur selten. Weil von Bernheim jede Phrase, jedes Melodiefuzel, jeder Ton dem Text und der Situation entsprechend moduliert wird, in Lautstärke, Klangfarbe, Rhythmik, Agogik. Einen derart reflektierenden und alleskönnenden Sänger, der zudem keinen Theatertrick auslässt, gibt es derzeit nirgendwo sonst auf dieser Erde.
Hoffmann jagt seinem erotischen Idealbild hinterher, das reale Weibsbild interessiert ihn herzlich wenig
Bernheim singt jetzt erstmals den Hoffmann. Offenbach hat den Hoffmann als Gesamtdarstellung eines Mannes angelegt, was von einem Sänger alles fordert. Hoffmann ist Loser und Künstler, Schwärmer und Brutalinski, Zärtling und Macho, Womanizer und Autist, Möchtegernsieger und Mimose. Und immer schwingt bei ihm die Melancholie und die Trauer darüber mit, dass das Leben nicht so ist, wie es idealerweise laut den gängigen Männerträumen sein sollte. Ja, die Frauen liegen Hoffmann zu Füßen, in dieser Oper sind es gleich fünf, samt und sonders erotisch anspruchsvolle Kunstfrauen. Keine von ihnen aber genügt dem Herrn der Schöpfung. Die eine ist herzlos, die nächste zu gefühlvoll, die dritte eine Hoffmann-Spötterin, die vierte eine ins Geld verliebte Sängerin. Hoffmann betreibt hier Identifikationen einer Frau, er jagt bei jeder seinem erotischen Idealbild hinterher, das reale Weibsbild interessiert ihn herzlich wenig. Bernheim stellt Hoffmanns Desinteresse am Gegenüber schonungslos aus, Olga Peretyatko singt diese vier Frauen vergnügt und geläufig.
Dann aber ist da noch die fünfte, die Muse. Angela Brower zaubert ein Zwitterwesen, ist Erotomanin, Göttin, Heilpädagogin und Zuchtmeisterin der Kunst in Personalunion. Als gute Psycholanalytikerin beschwört sie noch einmal die Katastrophen und Peripetien in Hoffmanns Erotikbiografie herauf, bis er selbst erkennt, dass das mit den Frauen und der real gelebten Erotik Unsinn ist. Weil die Frauen ihm nur als Vorlagen für seine Dichtungen, nicht aber als Lebenspartnerinnen taugen können. Offenbach und seine Mitarbeiter entwerfen hier, Sigmund Freud hätte solch ein pathologisches Verhalten nicht sinnlich schöner beschreiben können, ein wenig schmeichelhaftes Bild vom Künstler als Egoshooter, der sein Privatleben schonungslos ausbeutet, um Erfolg zu haben. Benjamin Bernheim zeigt hemdsärmelig unbekümmert und schonungslos diese Schattenseite des modernen Starkünstlertums. Doch in Offenbachs vom Kapitalismus beherrschter Welt, in der Liebe entweder Ware oder Illusion ist, ist dennoch die Kunst allein sinnstiftend und lebenserhaltend.
Bernheims kongenialer Mitstreiter an diesem Abend der Kunst und Analyse ist der Dirigent Kent Nagano. Nagano ist ein großer Könner der französischen Musik, ihm ist alles Dampfende, Schnaufende und jede Den-Hörer-über-den-Tisch-zieh-Mentalität fremd. Nagano ziseliert, er lässt sich auf Fremdheiten ein, er versucht sie nicht ins Bekannte einzugemeinden oder durch Leidenschaft zu übertünchen. Skrupulös wie Benjamin Bernheim modelliert er die 1001 Welten dieser zerschrundeten und unvollendeten Partitur, die paradoxerweise in ihrer Unvollendetheit doch die ganze Welt abbildet. Nagano macht klar, dass die "Contes" das erste offene Kunstwerk sind, so wie es Umberto Eco dann achtzig Jahre später in seinem gleichnamigen Klassiker als typisch für die Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg beschrieben hat.
Kent Nagano und seine Sänger drängen dem Publikum ihre Sicht der Dinge nicht auf
Nagano bleibt wie Bernheim immer leicht distanziert. Beide drängen ihre Sicht der Dinge den Zuhörern nicht als letzte Wahrheit auf. Das Publikum wird nicht überwältigt oder übertölpelt, sondern zum Hören als kreativen Akt aufgefordert. Das ist eine in Deutschland nicht allzu gern akzeptierte Ästhetik, die in Hamburg, der lange Beifall beweist es, aber sehr gut funktioniert. Auch Sylvain Cambreling, er leitet mit den Symphonikern in der Laeiszhalle das zweite große Ensemble der Stadt, vertritt mit Erfolg diese Ästhetik, die den gern als nüchtern apostrophierten Hanseaten ganz gut in den Kram zu passen scheint.
Luca Pisaroni gibt solide die vier luziferesken Kapitalisten, die Hoffmann regelmäßig die Liebe vermasseln, und Gideon Poppe bringt das große komische Kabinettstück hin, als ausgebildeter Sänger die vier Dienerunderdogs zu erschaffen, die mit dem Gesang auf Kriegsfuß stehen. Alle Sänger fügen sich in die fantastisch bunten Bühnenlandschaften und Kostüme von Hugo Gargiulo und Giovanna Buzzi, die deutsche Kneipensuffseligkeit mit einem riesigen Schmetterlingssammelturm und dem berühmten doppelten Zifferblatt des Torre dell'Oroglio in Venedig zusammenbringen, dazwischen wimmelt es vor Perücken, Weinflaschen, fliegenden Wesen, Ärzten und Spielautomaten. Regisseur Daniele Finzi Pasca genügt das vollauf, und er lässt seine Sänger an der langen Leine opernübliche Bewegungen machen. Allein was tuts. Die von Kent Nagano angezüchteten Ohrwürmer, Offenbachs wilde Dramaturgie und Benjamin Bernheims Klangfarbenorgientenorkunst werden noch tagelang für emotionale Glücksverwirrungen bei denen sorgen, die dieses Opernglück erleben konnten.