"Heimatlos" von Ulrich Greiner:Ein Buch gegen die Herrschaft des "linken Mainstreams"

"Heimatlos" von Ulrich Greiner: In der Ideengeschichte der Bundesrepublik fehlten konservative Gedanken nie, so wenig wie sozialistische, aber offenkundig muss alles immer wieder neu entdeckt werden.

In der Ideengeschichte der Bundesrepublik fehlten konservative Gedanken nie, so wenig wie sozialistische, aber offenkundig muss alles immer wieder neu entdeckt werden.

(Foto: ROHWOHLT Verlag (M))

In seinem Buch "Heimatlos" beklagt der Journalist Ulrich Greiner den Moralismus in Medien und Parteien. Aber anstelle von Argumenten liefert er Schuldzuweisungen.

Von Jens Bisky

Die meisten Ismen leisten nicht, wofür man sie braucht. Sie sorgen nicht für Übersichtlichkeit, sondern erhöhen die Verwirrung. Der immer klare Max Horkheimer überraschte 1971, am Beginn des "roten Jahrzehnts", im Spiegel mit der Behauptung, "daß richtige Aktivität nicht bloß in der Veränderung, sondern auch in der Erhaltung gewisser kultureller Momente besteht", weshalb der "wahre Konservative" dem "wahren Revolutionär" verwandter sei als dem Faschisten. In der Ideengeschichte der Bundesrepublik fehlten konservative Gedanken nie, so wenig wie sozialistische, aber offenkundig muss alles immer wieder neu entdeckt werden. Das hat in diesem Herbst der Zeit-Literaturkritiker Ulrich Greiner übernommen. Seine "Bekenntnisse eines Konservativen" privatisieren den Konservatismus. Anstelle von Argumenten wirft er seine Person in die Waagschale. Er fühlt sich heimatlos, weil die "Leitmedien" einen "Anpassungsmoralismus" pflegen. Keine Partei ist in Sicht, in der er sich mit seinen "Überlegungen und Bedenken " wiederfinden könnte.

Heute müssen Abweichler Büchner- und Börnepreis oder eine "Zeit"-Karriere erdulden

Es geht um die Ehe für alle und die Reproduktionsmedizin, um das christliche Abendland und den Islam, das Eigene und das Fremde, die Flüchtlingspolitik, die EU, um Gleichheit, Staat, Identität. Greiner verwickelt sich dabei in eine Reihe performativer Widersprüche. Das beginnt mit der Klage, die "Internationalisten" würden die Freunde des historisch Gewordenen "in die rechte Ecke" abschieben. Aber hat sich nicht der Autor selbst in diese Ecke gestellt? Der im März 2016 in der Zeit erschienene Artikel, aus dem dieses schmale Buch hervorging, trug den Titel "Vom Recht, rechts zu sein". Er unterwarf sich freiwillig dem erkenntnishemmenden Links-rechts-Schema. Greiners Buch schwankt nun unentschlossen zwischen diesem Schema und der Sehnsucht nach demokratischem Streit. Der wird aber durch die Neigung des Autors erschwert, Andersmeinende als Opportunisten, Moralisten, Selbsthasser herabzusetzen.

Ein Konservativer wie er - "jenseits von politischer Korrektheit und diesseits der AfD" - müsse heute einige Unbequemlichkeiten in Kauf nehmen. Dennoch seien Intellektuelle wie "Rüdiger Safranski und Sibylle Lewitscharoff, Martin Mosebach oder Peter Sloterdijk" konservativ. Zu den Unbequemlichkeiten, die unter der vermeintlichen Herrschaft eines "linken" Zeitgeistes die Abweichler erdulden müssen, gehören also Büchner- und Börnepreis oder eine langjährige Karriere bei der Zeit. Auch müssen sie es ertragen, dass ihnen gelegentlich heftig widersprochen wird. Der Shitstorm ist nun einmal der Applaus des öffentlichen Intellektuellen, Ideen setzen sich im Streit durch. Was heute gern als Aufklärung beschworen wird, als sei dies eine Brosche, die sich Europa irgendwann angesteckt habe, entfaltete sich in einer nie abreißenden Kette von Zänkereien, Polemiken, literarischen Schlachten. Das sähe man von einem konservativen Verteidiger des Abendlandes gern als das "historisch Gewordene und halbwegs Bewährte" verteidigt.

Stattdessen sorgt sich Greiner um den deutschen Weihnachtsmarkt, der von Selbsthassern in "Wintermarkt" umgetauft worden sei. Seit Jahren ist bekannt, dass es mit den skandalisierten Wintermarkt-Beispielen nicht weit her ist und landauf, landab nach wie vor Weihnachts- oder Christkindlmärkte um die Glühweinliebhaber konkurrieren. Aber in diesen "Bekenntnissen" eines Journalisten wird wenig Recherche betrieben. Die Herleitung steht vorab fest: Schuld sind Irrtümer, moralgestützte Verblendung der "Linken".

An die Stelle des christlichen Gewissens sei das "Weltgewissen" getreten

Diese äußere sich auch in der "Universalisierung der Moral", etwa wenn Plastiktüten als Gefahr für die Weltmeere angeprangert werden. An die Stelle des christlichen Gewissens sei das "Weltgewissen" getreten, "dessen Kommissare niemanden ungeschoren davonkommen lassen". Und Rauchverbote, Anschnall- und Helmpflicht, hässliche Bilder auf Zigarettenschachteln belegen: "Wir sind auf dem besten Weg in eine Diktatur der Fürsorge." Nach diesem rhetorischen Muster - kleiner Anlass, maximale Erregung - dramatisiert und hysterisiert Greiner normale Meinungsdifferenzen und alltägliche Irritationen. Es gab eine Zeit, da hätte man, zumal in Hamburg, derlei Unverhältnismäßigkeiten unbürgerlich genannt.

Kopfnickend liest man den Literaturkritiker Greiner, wenn er die Vernachlässigung der deutschen Sprache beklagt, wenn er analysiert, welche literarischen Folgen es hat, in "Jim Knopf und Lukas der Lokomotivführer" die Wendung "ein kleiner Neger" zu streichen. Er will Bibel und Koran nicht gleichgesetzt sehen, sieht im Islam ein nahezu unüberwindliches Hindernis für ein friedliches Zusammenleben und bemerkt zutreffend: "Eine Versöhnung mit dem radikalen Islam ist nicht möglich, eine Versöhnung mit den moderaten Muslimen nicht notwendig." Aber will man sich von einem Autor über den Islam belehren lassen, der den Ayatollah Chomeini noch 1989, im Jahr seiner Fatwa gegen Salman Rushdie, im Pariser Exil auf die Machtübernahme warten lässt? Chomeini war 1979 nach Iran zurückgekehrt.

Statt in die Wirklichkeit der Merkel-Jahre führt Greiner ins Innere eines Lebensgefühls

Die Flüchtlingskrise des Jahres 2015 behandelt Greiner, ohne außenpolitische Probleme oder ein Dilemma zuzugestehen. Die Botschaften des Papstes Franziskus zum Umgang mit Fremden übergeht er, obwohl er großen Wert darauf legt, katholisch zu sein. Naivitätsvorwürfe treffen die "Willkommenskultur", die NSU-Morde, der NSU-Prozess und die NPD-Demo in Heidenau im August 2015 kommen nicht vor. Der Moralismus wird gegeißelt, zugleich urteilt Greiner selbst unentwegt moralisierend. Moralismus ist nach einer bündigen Definition Hermann Lübbes "der Triumph der Gesinnung über die Urteilskraft". An diesen "Bekenntnissen" kann man den Sieg der Gesinnung über die Welt- und Selbstwahrnehmung studieren. Statt in die Wirklichkeit der Merkel-Jahre führt Greiner ins Innere eines Lebensgefühls, das akklamiert werden will. Die Heimat, die er sucht, ist das Publikum.

Zu Recht fragen Konservative nach der Rechtfertigung des Neuen. Wo andere den Fortschritt begrüßen, sehen sie - oft mit guten Gründen - Verlust. Deshalb besaß das konservative Denken bei großen Autoren der Bundesrepublik wie Joachim Ritter, Arnold Gehlen, Helmut Schelsky, Robert Spaemann wirklichkeitserschließende Kraft. Diese "Bekenntnisse" zeigen einen neuen Konservatismus, der sich mit Zerrbildern und der Stilisierung seiner selbst zum bedrohten Außenseiter begnügt. Der Verlust, der mit diesem Neuen einhergeht, ist beträchtlich.

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