"Zerbricht der Westen?" von Heinrich August Winkler:Ist der Westen am Ende?

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Vaterland first: Pegidisten in Dresden.

(Foto: Sean Gallup/Getty)

Nationalismus, Brexit, Trump: Heinrich August Winkler analysiert die Krisen Europas und der USA. Voller Sorge fragt er nach deren Zukunft. Doch was ist "der Westen" eigentlich?

Von Andreas Zielcke

Wenn der Westen zu zerbrechen droht, müsste er zerbrechlich sein. Heinrich August Winkler betont aber beharrlich, dass "der Westen" kein politisches Gebilde sei, keine feste Allianz, noch nicht einmal eine geografische Einheit - schließlich gehören, sagt er, auch Neuseeland und Australien zu ihm. Der Westen sei ein "normatives Projekt". Kann ein normatives Projekt zerbrechen?

Diese Frage beinhaltet mehr als nur semantische Pedanterie. Ohne zu klären, welche reale und nicht nur normative Substanz mit dem Begriff des "Westens" verbunden ist, kommt selbst ein so gehaltvolles Buch wie dieses in die Bredouille, es fehlt ein identifizierbarer roter Faden. So beschreibt es insbesondere die Krise der Europäischen Union außerordentlich detailliert, ja ihre akuten Probleme nehmen den größten Teil des Buchs ein. Doch keineswegs ist ausgemacht und auch nicht dargelegt, dass die Konstruktionsfehler der Euro-Zone oder die Konflikte um die Sanierung Griechenlands und anderer hoch verschuldeter Euro-Staaten den Westen als normatives Projekt infrage stellen.

Es fehlt der rote Faden - wenn man nur die normative, nicht aber die reale Substanz betrachtet

Dasselbe gilt für den ebenfalls ausführlich behandelten Brexit, auch wenn man ihn als Symptom dafür sieht, wie dramatisch die Bindekraft der Union nachlässt. Selbst der worst case, also die vollständige Auflösung der EU, würde noch keinen Bruch des Westens bedeuten. Auch dann könnten sich die einzelnen Länder seinen Grundwerten verpflichtet fühlen. Zweifellos würde ein wieder in Einzelstaaten zerfallendes Europa politisch nur noch ein schwaches Gegengewicht zu autoritären Großmächten wie Russland oder China bilden, von der Wucht der Weltwirtschaft gar nicht zu reden. Dennoch wären die Nationen des alten Kontinents in diesem Fall zwar erheblich einflussärmer, aber gehörten gleichwohl zum Westen.

In der Tat definiert Winkler den Westen nicht geopolitisch oder in Kategorien von Macht und Durchsetzungskraft, sondern als ein - ursprünglich eben rein okzidentales - Projekt der Institutionalisierung aufklärerischer Grundwerte. Der Kanon dieser Werte gruppiert sich um Menschenrechte, säkularisierte Hoheitsgewalt, repräsentative Demokratie, Gewaltenteilung, bürgerliche Freiheit und Rechtsstaat.

Darüber, dass dieser Kanon die unübertreffliche Finalität des politischen Entwicklungsprozesses darstellt, schienen sich in der Euphorie nach dem Mauerfall alle einig zu sein. Man wusste um die Mängel seiner Verwirklichung, doch die galten als zu überwindende Defizite und Rückstände. Heute aber sind wir mit neonationalistischen Bewegungen konfrontiert, die sich provokativ von dem liberalen Leitbild abwenden und offensiv, wie es Viktor Orbán in Ungarn und Jarosław Kaczyński in Polen tun, eine "illiberale Demokratie" propagieren. Mögen die Populisten und Identitären von Finnland bis Deutschland, von Österreich bis Italien oder auch unter Trump in den USA das freiheitliche Projekt nicht ganz so aggressiv herausfordern - an Winklers zutreffender Diagnose, dass die "liberale Demokratie des Westens in der Defensive ist", ändert dies wenig.

Der Westen, folgert er, mache daher eine "Zeit der Zerreißproben" durch. Doch das eine ist, ob der Westen zerreißt, das andere aber, ob westliche demokratische Gesellschaften in ihrem Inneren zerreißen. Tatsächlich ist die nur allzu häufig in offenen Hass umschlagende tiefe Polarisierung, die den USA so viel zu schaffen macht, ein Beispiel solcher innenpolitischen und auch zivilgesellschaftlichen Zerrissenheit. Ein gemeinsames Wertefundament scheint man nicht mehr zu haben, noch nicht einmal eine verbindende Sprache. In einigen europäischen Landesregionen sieht es kaum besser aus. Allein das krasse ökonomische, aber auch ideologische Gefälle zwischen Metropolen und Provinz teilt viele westliche Länder inzwischen in nur schwer zu versöhnende Lager.

Ein Volk, das seinen Zusammenhalt aufkündigt, begibt sich seiner Volkssouveränität. Der Westen dagegen besitzt keine Souveränität, weil er kein politisches Subjekt ist, kein Akteur auf der Weltbühne. Ist die alles überragende Menschenrechtserklärung der UN ihrem Grunde nach eine westliche Schöpfung? Selbst dann sind die UN natürlich keine Organisation des Westens. Umso ergiebiger wäre es, die viel beschworene "westliche Wertegemeinschaft" soziologisch zu analysieren: Realisiert sich diese Gemeinschaft de facto? Wenn ja, durch welche Interaktionen, durch welche wechselseitigen Bestärkungen oder auch Rivalitäten der einzelnen Demokratien? Durch welchen gemeinsamen Willen entfaltet sie eine eigene politische Gesamtdynamik?

Standardvokabular des politischen Diskurses

Nicht zufällig bezweifelt der namhafte Spezialist für Globalgeschichte, der Historiker Jürgen Osterhammel, dass der Begriff des Westens überhaupt sinnvoll ist. In jedem Fall sei er ein historisches Produkt, eine relativ junge Selbstbeschreibung der transatlantischen Hemisphäre. Dass er sich nicht selten zumindest im Unterton mit dünkelhaftem Akzent vom seinem Pendant abgrenzt, dem nicht weniger schimärenhaften "Osten", nimmt man im nahen und fernen Orient sensibler wahr als hier; man lese nur die Essays von einem der klügsten Kritiker des Westens, dem Inder Pankaj Mishra.

Winklers Aversion gegen "postnationale Konstellationen" ist nicht leicht zu begreifen

Immerhin kann Winkler sich trotz dieser berechtigten Skepsis auf einen eingespielten und unverdächtigen Sprachgebrauch berufen. So wie die Historiker Hans-Ulrich Wehler oder Jürgen Kocka die "Westbindung" als die "politisch-moralische Grundentscheidung" der Bundesrepublik rühmen, so wie Jürgen Habermas ein zwingendes Junktim herstellt zwischen dem Westen und dem Verfassungspatriotismus ("der einzige Patriotismus, der uns dem Westen nicht entfremdet"), so gehört diese die Demokratien überwölbende Normeinheit "Westen" zum Standardvokabular des hiesigen politisches Diskurses.

Wie weit dem Sprachgebilde ein Realgebilde entspricht, das ist, wie gesagt, die Frage. Nimmt man aber mit Winkler ernst, dass der Westen jedenfalls ein (normatives) "Projekt" darstellt, also ein Entwicklungsprozess, ist es konsequent, sich nicht nur dem ideellen Wertekanon zu widmen, sondern auch seiner historischen Entstehung. Winkler skizziert darum die Vorgeschichte des heutigen Demokratiekonzepts von der Antike über das Hochmittelalter bis zur Aufklärungs- und schließlich zur Jetztzeit, wenn auch in sehr knappen Stichworten. Für eine schlüssige Beschreibung reicht ein solcher plakativer Stationenweg selbstverständlich nicht, aber hier kann Winkler zu Recht darauf vertrauen, dass man für die ideengeschichtliche Vertiefung vor allem auf den ersten Band seiner viel gerühmten "Geschichte des Westens" zurückgreift.

Doch die Kürze hat auch ihren eigenen Effekt, sie zeichnet problematische Unterstellungen stärker ab. Zwei stechen besonders ins Auge, die wiederholte Warnung vor einem EU-Beitritt der Türkei und die Warnung vor "postnationalem" Bestreben. Nicht dass in diesen Jahren etwas für den Beitritt der Türkei zur EU spräche, ganz im Gegenteil. Doch Winkler begnügt sich nicht mit dem Verweis auf die Demokratie- und Rechtsfeindlichkeit des jetzigen Regimes, die jeden Anschluss an die Union völlig indiskutabel macht. Zusätzlich sieht er in der türkisch-islamischen Tradition ein offenbar unüberwindliches Demokratiehindernis: kein hinreichender Sinn für die Trennung der Gewalten und von Politik und Religion, keine politische Aufklärung, kein Respekt vor Menschenrechten und Individualität wie im Westen.

Dass eine Demokratie über das bloße Institutionengerüst hinaus eine tragfähige politische und mentale Freiheitskultur braucht, ist inzwischen Allgemeinkenntnis. Doch lässt sich die Fähigkeit, den nötigen Entwicklungsgang nachzuholen, nicht-westlichen Nationen pauschal absprechen? Angesichts des atemberaubenden Entwicklungssprungs, den etwa Deutschland (nicht ohne Hilfe von außen) oder Spanien geschafft haben, scheint ein solches Urteil, vorsichtig gesagt, voreilig zu sein. Bei Winkler sieht es so aus, als sei der "Westen" aus kulturellen Gründen endgültig an seine maximalen geografischen Grenzen gelangt. Dahinter liegen nur Kulturen, die angeblich nicht des Westens fähig sind.

Und auch seine Aversion gegen "postnationale Konstellationen" ist nicht leicht zu begreifen. Weder Jürgen Habermas oder Ulrich Beck noch die Globalisierungstheoretiker reden vom Ende des Nationalstaats. Sie versuchen mit ihren Thesen nur die Summe aller grenzüberschreitenden Prozesse zu ziehen, die auf die Gestaltungsmacht des Nationalstaats einwirken. Über ihre Schlüsse lässt sich streiten. Aber ist das normative Projekt des Westens überhaupt auf eine bestimmte national-transnationale Konstellation festgelegt?

Winklers Buch glänzt mit bewundernswertem Fleiß, mit dem jede Konferenz beschrieben wird, jedes politische Manöver auf dem Weg zur heutigen EU, zum Euro-Debakel, zu Trumps Wahl, zu all den Ereignissträngen, die am Ende in die bekannten demokratischen Krisen führen. Aber das sind die vielen Bäume, wo bleibt der Wald?

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